Wie steht Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im europäischen Vergleich da? Die Antwort ist ernüchternd. Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Worüber hier immer noch gestritten wird, macht man in anderen Ländern schon seit Jahren. Sie gibt aber auch relativ klare Handlungsempfehlungen, um Wege aus der Misere zu finden. Wie das geht, diskutieren Experten und Branchenkenner auch am 20. und 21. März wieder bei der Digitalkonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC.
Viel ist die Rede von „Kerneuropa“ und dem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, wenn es um die europäische Integration geht. Blickt man auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens, passt das Bild mit umgekehrtem Vorzeichen: Da zieht sich ein geschlossener Block durch die Mitte des Kontinents. Es sind Frankreich, die Schweiz, Deutschland und Polen – die letzten vier Plätze im Ranking von 17 EU- und OECD-Staaten, das die Bonner Forschungsgesellschaft Empirica Ende letzten Jahres erhoben hat. Die Peripherie ist hier offensichtlich fähiger als die Mitte des Kontinents.
In der Studie wurde analysiert, wie aktiv die Gesundheitspolitik in diesen Ländern bei der Digitalisierung handelt – welche Strategien werden verfolgt, welche technischen Voraussetzungen liegen vor und wie werden neue Technologien genutzt? Resultat: „Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen hinkt Deutschland deutlich hinterher“, so das unmissverständliche Urteil der Bertelsmann-Stiftung – Platz 16 von 17, nur in Polen sieht es noch schlechter aus.
Die Untersuchung zeigt auch: Technologien, über die man hierzulande seit Jahren debattiert, werden anderswo längst angewendet. „Während Deutschland noch Informationen auf Papier austauscht und an den Grundlagen der digitalen Vernetzung arbeitet, gehen andere Länder schon die nächsten Schritte“, kritisiert Thomas Kostera, Studienleiter bei der Bertelsmann-Stiftung. So sind in den Ländern, die am besten abschneiden – Estland, Kanada, Dänemark, Israel und Spanien – digitale Technologien bereits Alltag in Praxen und Kliniken. Das E-Rezept gibt es dort schon seit Jahren, digitale Patientenakten und Medikationspläne, auf die Ärzte und Kliniken direkt zugreifen können, ebenfalls.
In Estland und Dänemark haben die Patienten die Hoheit über ihre Daten: Sie können ihre Untersuchungsergebnisse, Medikationspläne oder Impfdaten nicht nur selbst online einsehen, sondern mit wenigen Klicks entscheiden, welche Ärzte, Apotheker oder andere Heilberufler auf ihre Daten zugreifen können. In Israel und Kanada wiederum ist Telemedizin bereits seit Jahren ein „selbstverständlicher Teil der Gesundheitsversorgung“, so Bertelsmann.
Doch die Studie lenkt den Blick nicht nur auf die Defizite. „So verschieden die Systeme auch sind, jetzt können wir Erfolgsfaktoren erkennen, von denen Deutschland lernen kann“, so Kostera. Demnach ist es „ein Dreiklang aus effektiver Strategie, politischer Führung und einer politisch verankerten Institution zur Koordination des Digitalisierungsprozesses“. In allen Ländern außer Deutschland und Spanien gibt es Agenturen für digitale Gesundheit auf nationaler Ebene, die beispielsweise für die Definition von technischen Standards und Datenformaten für die elektronische Patientenakte verantwortlich sind.
Und das sei von herausragender Bedeutung: „Entscheidend für eine erfolgreiche Digitalisierung ist die Koordination der Prozesse von zentraler Stelle“, schreibt die Stiftung. Deshalb müsse ein nationales Kompetenzzentrum errichtet werden, das für die Einbindung bestehender Institutionen, Interessengruppen, Experten und Nutzer sowie für die Standardisierung digitaler Anwendungen und die Definition von Schnittstellen verantwortlich ist. Dieses sollte „politisch gesteuert und unabhängig von Akteursinteressen getragen werden“.
In Deutschland hingegen sieht Kostera vor allem das fragile Gleichgewicht der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als verantwortlich für den Entwicklungsstau. Denn dorthin habe die Politik die Verantwortung für die digitale Transformation delegiert – und das rächt sich nun. „Hier haben sich die Akteure lange Zeit gegenseitig blockiert. Es ist noch nicht gelungen, alle Verantwortlichen hinter einem gemeinsamen Ziel zu versammeln“, sagt Kostera.
Doch die Politik scheint das Heft wieder in die Hand zu nehmen: In jüngster Zeit habe die Gesundheitspolitik ihre Führungsrolle ausgebaut. Deshalb sei aber noch nicht ausgemacht, dass die angedachten Entwicklungen etwa im Bereich der Elektronischen Patientenakten zum Erfolg führen. Dabei sei das Potential in Deutschland groß: „Eigentlich hat Deutschland die ersten Schritte in Richtung Digitalisierung früh gemacht“, so Bertelsmann. Außerdem gebe es seit vielen Jahren erfolgreiche digitale Pilotprojekte auf regionaler Ebene und auch eine lebendige Start-up-Szene zeige, „dass digitale Technologien kranken Menschen helfen können“.
Wie können wir dieses Potential also für uns nutzen? Und wie können wir bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu unseren Nachbarn aufschließen? Diese und weitere zentrale Fragen rund um den digitalen Wandel stehen im Mittelpunkt der Digitalkonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC. Rund 30 hochkarätig Top-Speaker widmen sich am 20. und 21. März in Berlin dem wichtigsten Zukunftsthema der Branche. So erklärt Dr. Tu-Lam Pham, wie Technologie und soziale Medien Gesundheit und Fitness auf der ganzen Welt verändern, und Dunja Hayali zeigt auf, wie man mit kontroversen Diskursen in sozialen Medien umgeht. Außerdem spricht neben Viktor Mayer-Schönberger, Koryphäe auf dem Gebiet des datengetriebenen Kapitalismus, unter anderem Professor Dr. Jürgen Schmidhuber, einer der Väter der Künstlichen Intelligenz, dessen Algorithmen von Apple über Facebook bis Google Anwendung finden. Mit den VISION.A Awards werden auch in diesem Jahr wieder die innovativsten Konzepte und Geschäftsideen ausgezeichnet. Das ganze Line-Up, alle Informationen und Tickets gibt es unter: vision.apotheke-adhoc.de
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