Drei Viertel der Praxen nicht behindertengerecht

Barrierefreiheit: Für Apotheken Pflicht, für Praxen Kür

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Berlin -

Bereits seit 2012 fordert die Apothekenbetriebsordnung, dass Apotheken barrierefrei sein müssen: Wer körperlich eingeschränkt ist, muss die Offizin trotzdem problemlos erreichen können. Die Vorschrift führt regelmäßig zu Auseinandersetzungen. Anders sieht es bei den Arztpraxen aus: Hier gibt es keine Vorschrift zur Barrierefreiheit. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz wurden zwar die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) verpflichtet, im Internet über Zugangsmöglichkeiten für körperlich eingeschränkte Menschen zu berichten. Getan hat sich aber seitdem wenig, wie eine parlamentarische Anfrage der Grünen im Bundestag nun zeigt.

Nur 26,4 Prozent der Hausarzt- und 26,1 Prozent der Facharztpraxen sind uneingeschränkt barrierefrei – allerdings nur in sieben KV-Bezirken. Wie es in den restlichen neun aussieht, weiß auch die Bundesregierung noch nicht. Und das, obwohl die KVen bereits im Mai 2019 dazu verpflichtet wurden, „die Versicherten im Internet in geeigneter Weise bundesweit einheitlich über (…) die Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zur Versorgung (Barrierefreiheit)“ aufzuklären, wie es im TSVG heißt. Dieser Verplfichtung seien die KVen bisher „nicht in angemessener Weise“ nachgekommen, kritisierten die Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen in einer gemeinsamen Stellungnahme vom August 2020.

Zwar gäbe es inzwischen auf den Seiten der KVen Recherchemöglichkeiten für barrierefreie Arztpraxen. Diese seien aber unzulänglich, böten keine „echte und verlässliche Informationsmöglichkeit“, seien schwer auffindbar, nur bedingt zugänglich und von Menschen mit Behinderungen „kaum nutzbar“, zitieren die Grünen aus dem Schreiben. Auch der Umsetzungsprozess ist demnach alles andere als verbindlich: Unter anderem seien die Erhebungen zur Barrierefreiheit nur freiwillig, beruhten auf Selbstauskünften und würden nicht von qualifizierten Stellen überprüft.

Der Kriterienkatalog für die Barrierefreiheit von Arztpraxen sei unvollständig, undifferenziert und teilweise widersprüchlich. Bei bestehenden Praxen und auch bei Praxisverkäufen spiele Barrierefreiheit derzeit keine Rolle. Nur bei Neubauten von Arztpraxen sei zumindest die bauliche Barrierefreiheit vorgeschrieben. Besonders im ländlichen Raum verschärfe dieser Zustand Mängel in der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen sowie für anderweitig mobilitätseingeschränkte Menschen. Während die Behinderten-Beauftragten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn persönlich mit der Forderung adressierten, die Umsetzung der gesetzlichen Regelung zu beaufsichtigen und wo nötig mit gesetzlichen Bestimmungen oder Aufsichtsmaßnahmen nachzusteuern, und Anreize in den Vergütungssystemen fordern, um eine bessere Honorierung barrierefreier Angebote und eine Kürzung bei einer nicht barrierefreien Versorgung zu erreichen, arbeitet die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) nach Angaben der Bundesregierung weiterhin an einem Register zu Barrierefreiheit – anderthalb Jahre, nachdem sie dazu verpflichtet wurde.

Datenquelle dafür ist demnach das Bundesarztregister (BAR). „Die Erfassung von Merkmalen zur Barrierefreiheit sei im BAR derzeit noch im Aufbau“, so die Bundesregierung. „Zum jetzigen Zeitpunkt würden in circa zwei Dritteln der KVen die notwendige technische und prozessuale Infrastruktur zur Meldung der Barrierefreiheits-Merkmale bestehen.“ Allerdings: Bisher werden diese Merkmale nach verschiedenen Systematiken erhoben. Daten kann die Bundesregierung deshalb bisher nur von den sieben KV-Bezirken Hamburg, Westfalen-Lippe, Rheinland-Pfalz, Saarland, Brandenburg, Thüringen und Sachsen liefern. Und da sieht es sehr durchwachsen aus: Demnach beträgt der Anteil der barrierefreien Hausarztpraxen in Rheinland-Pfalz gerade einmal 15,9 Prozent. Brandenburg und Sachsen stechen mit 46,2 und 33,6 Prozent schon positiv hervor. Die restlichen Bezirke liegen zwischen 21,5 und 23,1 Prozent. Bei den Facharztpraxen sieht es nicht viel besser aus, hier führen wieder Brandenburg und Sachsen mit 53,6 und 39,1 Prozent, dafür ist Hamburg mit 15,4 Prozent das Schlusslicht. Dies restlichen Bezirke liegen zwischen 16,3 und 25,8 Prozent.

Diese Unzulänglichkeiten haben nun sogar das Deutsche Institut für Menschenrechte auf den Plan gerufen. Ein Überblick über die Barrierefreiheit von Arztpraxen auf der Grundlage eines bundesweit einheitlich definierten Kriterienkatalogs, der alle Arten von Beeinträchtigungen berücksichtigt, fehle bislang. „Menschen mit Behinderungen sind in besonderem Maß auf medizinische Unterstützung angewiesen, können sie aber oft nicht in Anspruch nehmen, weil Arztpraxen nicht barrierefrei sind“, so Direktorin Beate Rudolf. Sie kritisiert die bisher uneinheitlichen Standards und die mangelhafte Umsetzung des Informationsregisters.

Die Angaben zur Barrierefreiheit dürften dabei nicht nur auf der Grundlage von Selbstauskünften erfolgen und müssten regelmäßig überprüft würden. „Es ist dringend notwendig, dass der Kriterienkatalog Barrierefreiheit umfassend versteht. Denn Menschen mit Behinderungen haben sehr unterschiedliche Bedarfe“, so Rudolf. „Sie reichen von Information und Kommunikation in Gebärdensprache oder Leichter Sprache bis hin zu barrierefreien Räumlichkeiten und Geräten. Deshalb ist es wichtig, dass die Arztpraxen im Rahmen der neu geschaffenen Informationspflicht genau benennen, welche Vorkehrungen für Barrierefreiheit sie getroffen haben.“

 

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