Aufsicht darf Patientenakten lesen Alexander Müller, 22.08.2019 09:44 Uhr
Bei einer unangekündigten Kontrolle einer Apotheke waren dem Vertreter der Überwachungsbehörde einige Betäubungsmittel-Rezepte aufgefallen. Als Nachfragen bei dem verordnenden Arzt nicht weiterhalfen, drohte die Behörde mit Zwangsgeldern, der so Bedrohte klagte. Doch der Verwaltungsgerichtshof München (VGH) entschied jetzt, dass der Arzt mit Patientenakten belegen muss, warum er die BtM-Rezepte im Einzelfall ausgestellt hat.
In der Apotheke waren bei der Kontrolle im August 2013 insgesamt 13 BtM-Rezepte aufgefallen. Auf einem davon war Methylphenidat verordnet – für einen Familienangehörigen des Arztes. Die Aufsicht informierte den Mediziner, dass es Anlass zur Überprüfung gebe, ob die Verschreibung ärztlich begründet gemäß § 13 BtMG gewesen sei.
Der Arzt – ein Allgemeinmediziner und Diplompsychologe – gab zu Protokoll, das Mittel sei für seinen Sohn bestimmt, der Physik studiere und bei dem der Verdacht auf ADHS bestehe. Doch der Fachdienst der Aufsicht sah die Verordnung als unbegründet an. So habe keine gesicherte fachärztliche Diagnose zum Zeitpunkt der Verschreibung des Betäubungsmittels vorgelegen. Gemäß Leitlinie muss eine ADHS-Diagnose etwa durch einen Psychiater, Neurologen oder psychologischen Psychotherapeuten gestellt werden.
Im November 2013 wurden bei einer weiteren Kontrolle in der Apotheke neun Rezepte desselben Arztes aufgegriffen. Dieser gab aber keine Informationen zu seinen Verordnungen heraus und verwies aber auf seine Schweigepflicht. Das ging eine Weile so hin und her, bis die Aufsicht im Oktober 2015 unangekündigt in der Praxis auftauchte und BtM-Rezeptdurchschläge einsah. Auffällig war – neben dem Durcheinander in der Praxis – die relativ häufige Verordnung von Methylphenidat an Erwachsene.
Später wollte die Behörde zu 14 Patienten nicht nur die entsprechenden Rezeptdurchschläge sehen, sondern auch Unterlagen zur ärztlichen Begründetheit der BtM-Verschreibung. Im November 2016 sollte der Arzt per Bescheid dazu verpflichtet werden, die Durchschläge sowie für die namentlich benannten Patienten die Dokumentation, Arztbriefe und Befunde vorzulegen. Anderenfalls drohten in jedem Einzelfall ein Zwangsgeld von 1000 Euro. Achtmal war Ritalin verordnet worden, in den anderen Fällen unter anderem Fentanyl, Morphium, Tilidin, Palladon.
Der Arzt klagte gegen den Bescheid der Behörde. Das Verwaltungsgericht gab ihm zunächst teilweise recht. Laut Urteil war die Aufsicht zu weit gegangen, als sie für jeden Fall den medizinischen Grund des BtM-Rezepts erfragen wollte. Die Rezeptdurchschläge müsse er allerdings einreichen.
Der VGH ging im Berufungsverfahren noch einen Schritt weiter und wies die Klage des Arztes vollständig zurück. Er folgte der Argumentation der Behörde, dass es im Wesen der Überwachung liege, zu kontrollieren. „Insbesondere ist das Vorliegen einer konkreten Gefahr bei der Anforderung der Patientenunterlagen, wie vom Verwaltungsgericht gefordert, nicht erforderlich“, heißt es im Urteil. Die Vorschrift sehe nicht vor, dass die mit der Überwachung beauftragten Personen nur „bei einer Gefahr für den Betäubungsmittelverkehr“ befugt seien, Unterlagen einzusehen. Es gehe vielmehr um die „Prüfung, ob die Teilnehmer am Betäubungsmittelverkehr ihre Pflichten erfüllen und die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs damit gewährleistet ist“. Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ermögliche eine ständige Kontrolle, unabhängig von einem Anfangsverdacht.
Abzuwägen hatte der VGH das Ausmaß der Überwachung des BtM-Verkehrs und damit das „Schutzgut der Volksgesundheit“ und auf der anderen Seite das zu schützende Arzt-Patient-Verhältnis und das Recht auf die Privatsphäre der betroffenen Patienten. Patientenakten dürften nur nach einer Verhältnismäßigkeitskontrolle von einer Behörde angefordert werden. Ganz ohne Daten könne die Behörde ihrer Aufsichtspflicht freilich auch nicht nachkommen.
Im konkreten Fall habe es sich aber nicht um eine Routine- oder Stichprobenkontrolle gehandelt, sondern um eine anlassbezogene Kontrolle. Hier hätten Anhaltspunkte vorgelegen, die auf mögliche Verstöße gegen das BtMG zumindest hinwiesen. Ein milderes, gleich wirksames Mittel ist laut VGH nicht ersichtlich. Dass der Arzt und Psychologe ohne vorherige fachärztliche Diagnose Methyphenidat verschreibe, sei eine „Indiztatsache“. Gerade der Umstand, dass er das Mittel seinem Sohn verordnet hatte, obwohl ihm die Gefahren bewusst sein müssten, stelle die Gesetzmäßigkeit des Verschreibungsverhaltens des Arztes generell in Frage.
Auch an der Höhe der angedrohten Zwangsgelder hatte der VGH nichts auszusetzen. Sie bewegten sich im unteren Bereich des vorgegebenen Rahmens von 15 Euro bis 50.000 Euro. Und bei jeder Patientenakte handele es sich in einen eigenen Streitgegenstand. Revision wurde nicht zugelassen.