Kette sucht Ärzte für Einöden Patrick Hollstein, 09.02.2017 10:30 Uhr
Investieren, wo andere abwinken – das ist das Geschäftsmodell von Patiodoc. Um Ärzte aufs Land zu bekommen, übernimmt das Unternehmen mit Sitz in Berlin das wirtschaftliche Risiko des Praxisbetriebs. Wenn Ärzte frei von ökonomischen Zwängen ihrem Beruf nachgehen, könnte auch Profit für Dritte drin sein, so das Kalkül.
Patiodoc ist noch gar nicht alt, hat aber schon eine wechselvolle Geschichte hinter sich. 2010 unter dem Namen Patiomed gegründet, war die Firma ein Gemeinschaftsprojekt von Ärztefunktionären, Apobank und Investoren. Dort, wo Praxen schließen, sollten MVZ mit angestellten Ärzten einspringen. Auf diese Weise ließe sich die Versorgung sicherstellen – lukrative Standorte sollten solche ohne ausreichende wirtschaftliche Basis querfinanzieren. Bis hin zu angeschlossenen Apotheken gingen die Pläne der Funktionäre.
Obwohl Patiomed fünf MVZ an den Start brachte, scheiterte das Projekt an den berufspolitischen Widerständen. Selbst der Betrieb von noch einmal so vielen Sicherstellungspraxen für die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in Niedersachsen und Brandenburg konnte kein positives Image bringen.
Als im Frühjahr 2014 Dr. Andreas Köhler von seinem Amt als Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zurücktrat, stand Patiomed vor dem Aus: Der Deutsche Ärzteverlag, über den sich KBV und Bundesärztekammer (BÄK) mit 24 Prozent an Patiomed beteiligt hatten, verabschiedete sich. Kurz darauf war auch die Apobank, die mit 49 Prozent bis dahin größter Anteilseigner war, weg. Nach einem kurzen Intermezzo mit dem Spitzenverband der Fachärzte (SpiFa) um den ehemaligen FDP-Gesundheitspolitiker Lars Lindemann stand das Management um Vorstandschef Ralf Sjuts Anfang 2015 alleine da.
Pläne wurden überarbeitet; man beschloss, sich von allen MVZ zu trennen. „Das waren alles Gemischtwarenläden, die zwar teilweise schwarze Zahlen schrieben, mit denen man aber nicht glücklich werden konnte“, sagt Sjuts. Man könne die Häuser zwar „mit Arztsitzen aufpumpen“, aber sonst strategisch nichts mit ihnen anfangen. „Der Betreuungsaufwand ist schlichtweg zu groß.“
So wurden 2015 die Standorte in Koblenz und Berlin verkauft. Vor Kurzem verabschiedete sich Patiodoc auch aus Dieblich in Rheinland-Pfalz; der Verkauf von komplexen Einrichtungen braucht seine Zeit. Im saarländischen Heusweiler ist damit das letzte verbliebene Patiodoc-MVZ angesiedelt. In Duisburg betreut das Unternehmen als Verwalter noch das Gesundheitszentrum am Sittardsberg. Auch zwei Sicherstellungspraxen in Niedersachsen laufen weiter.
Das neue Konzept sah eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Ansatz vor: die Sicherung der Versorgung im ländlichen Raum. Allerdings sollten nicht mehr ganze MVZ auf die Beine gestellt werden, sondern – unter Nutzung der Rechtsform – kleinere Praxen mit ein bis zwei Ärzten.
Und noch einen entscheidenden Paradigmenwechsel gab es: Patiodoc ist nicht mehr berufspolitisch aufgeladen, sondern privatwirtschaftlich organisiert und damit auf Rendite ausgerichtet. Drei Viertel der Anteile gehören heute Sjuts und einem Steuerberater aus Berlin; ein dritter Partner, der aus dem Umfeld von erst skandalumwitterten und dann insolventen TK-Kette Atriomed kam, hat sich gerade verabschiedet. Nur 25 Prozent hält noch die von Ärztefunktionären gegründete Aesculap-Stiftung und die um sie versammelten Investoren. Sjuts hofft, die Firma irgendwann komplett übernehmen zu können.
Patiodoc will überall dort einspringen, wo Ärzte ihre Praxis aufgeben und wo sich kein Nachfolger findet. „Viele Ärzte wollen heutzutage nicht mehr selbstständig sein“, sagt Sjuts. Gerade auf dem Land fehle den Medizinern jegliche Bereitschaft, sich finanziell zu binden. Kosten von 200.000 bis 300.000 Euro ließen viele Interessenten angesichts der ungewissen Zukunft zurückschrecken. „Einen Arzt zu finden, der eine Praxis auf dem Land übernimmt, ist nahezu aussichtslos. Ein Angestelltenverhältnis zu vermitteln, ist deutlich einfacher.“
Ärzte seien also im Grundsatz vorhanden, auch bei den Kommunen sei das Interesse da. Sjuts räumt aber ein, dass man noch ganz am Anfang stehe: „Unser Job ist es derzeit, auf die Gemeinden zuzugehen und alle möglichen Klinken zu putzen.“ Beißt ein Bürgermeister an, gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder wird die Praxis als kommunale Eigeneinrichtung betrieben, was seit knapp zwei Jahren zulässig ist. Oder in Absprache mit der KV wird eine Sicherstellungspraxis geführt. Patiodoc schlüpft in beiden Fällen nicht in die Eigentümer-, sondern nur in die Betreiberrolle.
„Unser Modell sieht vor, dass wir das Risiko übernehmen – und im Gegenzug auch die Chance bekommen“, so Sjuts. Da der wirtschaftliche Erfolg trotzdem alles andere als sicher ist, hat Patiodoc auch das ursprüngliche Konzept der Querfinanzierung übernommen: In Hannover, Berlin, Hamburg und zuletzt München wurden unter der Marke „Ästhetik-Experten“ Schönheitskliniken eröffnet, Hier kann sich zahlungskräftige Klientel verschiedenen Eingriffen unterziehen – von der Faltenbehandlung bis hin zum Lifting. „Was die Finanzierung angeht, kommen wir zurecht.“
Sjuts macht sich keine Illusionen, dass er mit seinem Konzept schnell erfolgreich sein wird. „Es wird noch zwei bis drei Jahre dauern, bis der Knoten platzt.“ Noch immer werde berufspolitisch gegen solche neuen Ansätze „gebissen“, auch wenn es mittlerweile weniger „ideologisch“ zugehe als noch vor fünf Jahren. „Das wird irgendwann der Vergangenheit angehören“, sagt der Patiodoc-Chef und verweist auf Lösungsansätze aus Schleswig-Holstein, wo KV und Kommunen erfolgreich zusammenarbeiteten.
Aus seiner Sicht müssen sich die Ärzte und alle anderen Beteiligten im Gesundheitssystem für neue Ansätze öffnen, um nicht von der demografischen Entwicklung überrollt zu werden. Nicht in jedem Dorf werde sich eine Praxis halten können, aber Fahrtwege von 60 Kilometern zum Hausarzt dürften keine Option sein. Auch die Apotheker werden sich mit solchen Konzepten auseinander setzen müssen. „Unser Auftrag ist doch nicht, eine Praxis oder Apotheke zu betreiben, sondern die Versorgung zu sichern.“