35,4 Milliarden Euro für Arzneimittel Julia Pradel, 23.09.2015 15:21 Uhr
35,4 Milliarden Euro haben die Krankenkassen 2014 für Arzneimittel ausgegeben. Das ist ein Anstieg um mehr als 10 Prozent – bei einer fast gleichbleibenden Zahl an Verordnungen. Das ist das Ergebnis des aktuellen Arzneiverordnungsreports (AVR).
Den Ausgabenanstieg führt AVR-Herausgeber Professor Dr. Ulrich Schwabe auf zwei wesentliche Punkte zurück: Die Absenkung des Herstellerabschlags von 16 auf 7 Prozent habe zu Mehrkosten von rund einer Milliarde Euro geführt. 2,1 Milliarden Euro seien durch höhere Ausgaben in sechs Arzneimittelgruppen entstanden: Antidiabetika, Antithrombotika, andere Nervensystemmittel, antivirale Mittel Immunsuppressiva und Onkologika.
Diese Mehr-Ausgaben hält Schwabe größtenteils für ungerechtfertigt: Bei den Antidiabetika entfalle der Anstieg hauptsächlich auf Gliptine – für die klinische Endpunktstudien fehlten. Bei den Antithrombotika seien die neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) die Kostentreiber. Sie seien 20-fach teurer als „das gute alte Phenprocoumon“ und seien nicht ohne Risiken. Trotzdem gälten sie in Deutschland als die beste Option.
Bei den anderen Nervensystemmittel beruhe die Steigerung allein auf dem Multiple-Sklerose-Mittel Dimethylfumarat. Zwar habe die AMNOG-Bewertung für Tecfidera keinen Zusatznutzen ergeben und der Preis sei um 42 Prozent gesenkt worden – doch die 100 Millionen Euro, die die Kassen bereits gezahlt hätten, seien verloren. Das Plus bei den Immunsuppressiva liege vor allem an der vermehrten Verordnung von vier Präparaten: Humira, Enbrel, Remicade und Simponi. Sie alle seien hervorragend wirksam, aber zu teuer.
Vergleichsland waren in diesem Jahr die Niederlande. Dort werden die Arzneimittelpreise anders als in Deutschland publiziert. Aus Sicht der AVR-Autoren ist diese Methode „offensichtlich effektiver“ als das deutsche System der Rabattverträge. Sie errechnen ein Einsparpotenzial von 5,9 Milliarden Euro bei Generika – bei einem Gesamtmarkt von 16 Milliarden Euro.
Bei den patentgeschützten Arzneimitteln ließen sich 1,9 Milliarden Euro sparen. Zieht man davon die Einsparungen aus den Rabattverträgen ab – immerhin 3,2 Milliarden Euro – ergibt sich den Autoren zufolge ein Potenzial von 4,6 Milliarden Euro. Ein erster Schritt, um dieses Potenzial zu heben, wäre aus Sicht von Schwabe eine Rückkehr zur Bestandsmarktbewertung – seiner Meinung nach ein gerechteres Mittel als Zusatzbeiträge.
Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), sieht eine Verschiebung zu teureren Patentarzneimitteln. Die Ausgaben der Kassen für Originale beliefen sich 2014 auf 13,8 Milliarden Euro – 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Verordnungen sank zwar um knapp 8 Prozent, ihr Wert stieg hingegen um rund 25 Prozent auf 290 Euro. Die 46 neuen patentgeschützten Arzneimittel kosteten durchschnittlich 1400 Euro, acht von ihnen sogar mehr als 10.000 Euro pro Packung.
Diese Entwicklung wäre aus Sicht von Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig, dem Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), durchaus zu akzeptieren, „wenn wir dafür einen echten Fortschritt bekommen“. Allerdings: „Die Preise orientieren sich nicht am Fortschritt oder an einem neuen Wirkmechanismus, sondern daran, was der Markt zu zahlen bereit ist – und er ist derzeit bereit, sehr viel für einen marginalen Nutzen zu zahlen.“
Aus Sicht des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) war 2014 ein „atypisches Jahr bei den Arzneimittelausgaben“: Rund die Hälfte des Anstiegs sei auf einmalige Sondereffekte zurückzuführen, nämlich die seit langem geplante Rückführung des Mengenrabattes, die Zunahme der Versichertenzahl und die erhöhte Apothekenvergütung. „Die andere Hälfte ging auf bedeutende therapeutische Innovationen zurück“, so VFA-Chefin Birgit Fischer.
Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH), kritisierte insbesondere die Forderung, auch den Bestandsmarkt einer Nutzenbewertung zu unterziehen: „Die Bewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt ist mit erheblichen rechtlichen, methodischen und administrativen Problemen verbunden.“ Der Gesetzgeber habe daher zurecht den Bestandsmarktaufruf abgeschafft. Auch die Vorschläge, einen rückwirkenden Erstattungsbetrag einzuführen, führten am Ziel vorbei – und sei schon aus verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig.
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie sieht die vorgeschlagenen Einsparpotentiale bei Generika kritisch: „Wo hier durch die Hersteller noch Einsparungen erzielt werden sollen, ist rätselhaft“, so der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Dr. Norbert Gerbsch. Durch Festbeträge, Rabattverträge, Generikaabschläge und anderes werde gerade dieses Produktsegment extrem belastet.
Der Geschäftsführer des Branchenverbands Pro Generika, Bork Bretthauer, kritisiert, der AVR schlage vor, „dass Generikaunternehmen den Kassen Rabatte gewähren, die weit über das hinausreichen würden, was alle Generikaunternehmen in ganz Deutschland zusammengenommen real an Umsatz machen“. Der Report sehe vermeintliche, weitere Einsparpotenziale bei Generika von 2,5 Milliarden Euro und ignoriere dabei, dass die tatsächlichen Umsätze der Generikaunternehmen (zu Werkspreisen und nach Abzug aller Rabatte an die Krankenkassen) seit Jahren rückläufig seien und im Jahr 2014 nur noch rund 2 Milliarden. Euro betragen hätten.