Debatte zur Schicksalswahl

„Wer Gesundheitsminister wird, ist uns egal“

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Diese Sechs diskutierten über das Wahlergebnis von gestern: Thomas Preis, Anne-Kathrin Klemm, Nadine Tröbitscher, Thomas Bellartz, Dr. Dirk Heinrich und Dr. Kai Joachimsen.Foto: Mark Mattingly
Berlin -

Die Bundestagswahl ist entschieden – nun stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das Ergebnis auf die Gesundheitspolitik haben wird. Reformen sind überfällig, doch welche Partei setzt welche Akzente? Und wer übernimmt das Gesundheitsministerium? Im APOTHEKE LIVE analysieren Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes, Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes und Abda-Präsident Thomas Preis die Wahlergebnisse und ihre Folgen für das Gesundheitswesen.

 

13 Uhr: Nadine Tröbitscher, Chefredakteurin von APOTHEKE ADHOC und PTA IN LOVE, eröffnet den Livetalk und verweist auf die Wahlergebnisse mit dem historisch schlechten Abschneiden der SPD, dem Wahlsieg der Unionsparteien und dem Erstarken der AfD.

Tom Bellartz, Herausgeber von APOTHEKE ADHOC:

  • Die Wahlergebnisse und die mögliche Neuauflage der Großen Koalition werfen viele Fragen auf, auch was dies für das Gesundheitswesen bedeuten kann.
  • Zur Schwäche der SPD: Insbesondere bei den jüngeren Wähler:innen gehört Boris Pistorius zu den beliebtesten Politiker:innen, der nicht gerade für die Jugend stehe, während beispielsweise Kevin Kühnert ausscheidet.
  • Das Duo aus Söder und Merz funktioniert bisher.
  • Zur möglichen Koalition: Es gelte, die Kräfte zu bündeln, denn zusammen seien die Ergebnisse von SPD und Unionsparteien nicht so stark wie erhofft.

Tröbitscher: Auch einige Gesundheitspolitiker:innen, die sich für die Apotheken stark gemacht haben, schaffen es nicht in den neuen Bundestag, weil sie ihr Direktmandat verpasst haben. Der noch amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat es dagegen geschafft. Auch das Ausscheiden der FDP könnte ein Thema werden.

Thomas Preis, Abda-Präsident: Die FDP sei eine etablierte Partei, aber ihr Ausscheiden stelle für die Apotheken und die Standesvertretung kein Problem dar.

Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes: Es gibt derzeit mit der Trump-Wiederwahl und der aktuellen geopolitischen Lage drängendere Probleme. Dennoch brauche die Gesundheitspolitik einen hohen Stellenwert und dürfe in den vier Jahren nicht „hinten herunterfallen“.

Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie: Wir haben keine Zeit zu verlieren, es brennt lichterloh.

  • Die begonnenen Aspekte der Pharmastrategie müssen fortgesetzt werden, das Lieferengpassproblem muss behoben werden, und auch das Medizinforschungsgesetz müsse vorangetrieben werden.
  • Ziel sei es, wieder mehr Produktion in Deutschland oder zumindest in Europa zu ermöglichen.
  • Deutschland könnte wieder Wachstumsindustrie werden.

Preis: Die neue Regierung muss sofort reagieren und ein Sofortprogramm liefern, und zwar für die gesamte Wirtschaft. Dabei spielen auch die Apotheken eine zentrale Rolle. Man wolle der Politik Angebote machen und gemeinsam neue Konzepte entwickeln.

Dr. Heinrich: Ich bin sicher, auch wir werden mit unseren Themen präsent sein.

  • Wir brauchen nicht nur eine Entbudgetierung, sondern auch eine gute Patientenführung.
  • Das Ziel muss sein, mehr Menschen bis zum Rentenalter im Beruf zu halten und nicht frühzeitig zu verlieren.
  • Gesundheitsthemen sind im Wahlkampf in den Hintergrund gerückt, doch Vorwahlumfragen haben gezeigt, dass das Interesse da ist. Hinzukommt, dass die Probleme trotzdem weiterhin da sind.
  • Eine gezielte Patientensteuerung ist das A und O, beispielsweise durch eine verpflichtende Abfrage mit einem Algorithmus oder auch Gesundheitskioske. Denn andernfalls droht die Überlastung der Praxen, Notaufnahmen & Co. noch weiter zuzunehmen und sich das Problem zu verschärfen.

Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes: Dabei müsse auch das Problem der Ungleichbehandlung zwischen Privat- und Kassenpatient:innen angegangen werden.

  • Der Zugang zur Versorgung muss verbessert und besser gesteuert werden.
  • Auch das Thema Beitragssätze spielt dabei eine Rolle. Andernfalls droht der soziale Frieden in Gefahr zu geraten. Hier müsse die neue Regierung unbedingt „rangehen“, auch um die steigenden Ausgaben einzudämmen.
  • Die GKV brauche mehr Finanzstabilität. Ein wie auch immer geartetes Kostendämpfungsgesetz sei hier nicht die Lösung.

Preis: Es kommt ein Tsunami an Nachfrage bei der Gesundheitsversorgung auf uns zu, da sind wir uns einig.

  • Es könne aber nicht sein, das Krankenhäuser, Apotheken und Co. nicht funktionieren, nur weil kein Geld da sei.
  • Die Apotheken würden den Kassen schon erhebliche Summen – zehn Milliarden – durch das Einhalten von Rabattverträgen und Co. einsparen. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Lage noch schlimmer.
  • Deshalb: „Finger weg von den Apotheken.“
  • Stattdessen brauche es andere Lösungen, um die Finanzierung zu regeln.

Dr. Heinrich: Das Problem der vermeintlichen Ungleichbehandlung zwischen Privat- und Kassenpatient:innen wird immer wieder diskutiert, doch dies sei ungerecht. Es kann nicht von Mediziner:innen verlangt werden, Leistungen zu erbringen, die dann von den Kassen nicht bezahlt werden.

Preis: Einige der vorgeschlagenen Konzepte zur besseren Patientensteuerung, beispielsweise die von einigen KVen ins Spiel gebrachte verstärkte Nutzung der Rufnummer 116117 müssten überdacht werden.

  • Hier braucht es eine bessere Verzahnung mit dem Apotheken, an die auch überwiesen werden könnte.
  • Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft sei es nicht mehr anders zu stemmen, weil sonst sie Gesundheitsversorgung ihr Limit überschreiten wird.
  • Derzeit schädigt sich jede:r Patient:in finanziell selbst, der im Rahmen der Selbstmedikation in der Apotheke aktiv wird, während andere stundenlang in den Praxen sitzen müssen, auf der Arbeit ausfallen und dann auf Kassenkosten ein Medikament verschrieben bekommen. Hieran müsse gearbeitet werden.

Klemm: Wir brauchen ein „Reboost GKV“, beispielsweise mit einer sektorenübergreifenden Versorgung. Es brauche aber neue Lösungen und nicht die alten.

Preis: Sie können diese Lösungen aber nicht bei den Leistungserbringern holen, wir sind ausgequetscht.

Dr. Heinrich: Auch weitere Themen wie versicherungsfremde Leistungen, mehr Prävention und Co. müssen dabei angegangen werden. Gesundheitskioske können dagegen ein sinnvoller Aspekt zur Patientensteuerung sein.

Preis: Eine solche Parallelinstitution brauchen wir nicht.

Klemm: Prävention wird künftig eine immer wichtigere Rolle spielen.

Preis: Hier wurde mit dem Gesunde-Herz-Gesetz schon ein sinnvoller Ansatz auf den Weg gebracht. Apotheken können hier eine wichtige Rolle spielen, um die Patientensteuerung mitzugestalten. „Wir können mehr Präventionsleistungen erbringen.“

13.44 Uhr: Frage aus dem Publikum: Braucht es überhaupt derart viele Kassen oder würden nicht zehn genügen?

Klemm: Die Verwaltungskosten sind unter 4 bis 5 Prozent, da wird schon viel gespart. Auch Personal werde sinnvoll eingesetzt. Dennoch müssten die täglichen Aufgaben auch gestemmt werden, das geht nicht weg, auch wenn es nur noch zehn Kassen gebe. Hinzukommt, dass die Wahlfreiheit und auch das Wechselpotenzial durch stärker eingeschränkt wären.

Preis: Keine Einheitskasse, aber deutliche Reduktion wäre denkbar.

Dr. Heinrich: Es gibt Einsparpotenzial, sondern gebe es ja keine Fusionen. Dennoch dürfe kein Wunsch nach einer Einheitskasse aufkommen. Denkbar sei jedoch eine stärkere Bündelung.

Dr. Joachimsen: Wir haben ein strukturelles Problem.

  • Wir müssen das gesamte Gesundheitswesen einfach mal neu denken.
  • Gesundheit ist teuer und nimmt finanziell einen großen Anteil ein.
  • In einem renovierungsbedürftigen Haus genügt es auch nicht, nur nach mehr Heizleistung und Co. zu fragen, sondern es müsse strukturell etwas verändert werden.
  • Das Thema Gesundheit muss auch stärker mit Bildung verknüpft werden, beispielsweise durch Unterricht an den Schulen.
  • Auch die Digitalisierung muss endlich weiter vorangetrieben werden, wie der Ärger rund um die ePA aktuell zeige.
  • „Mehr Geld“ allein wird nie die Antwort sein, sondern wir brauchen andere Strukturen.

Preis: Wir dürfen die Menschen nicht vergessen, wir müssen die Versorgung auf mehr Schultern verteilen – hier sollten auch Apotheken stärker einbezogen werden.

  • Von Seiten der Politik brauche es aber auch einen gewissen Schutz, beispielsweise vor Versendern.
  • Außerdem müssten Apotheken wieder die Möglichkeit von Skonti erhalten, dies sei weltweit Usus, nur hierzulande nicht mehr.

Tröbitscher: Wer soll neuer Gesundheitsminister werden?

Preis: Wer Gesundheitsminister wird, ist uns im Grunde egal. Wichtig ist, dass der- oder diejenige engagiert ist. Wir werden unsere Punkte setzen, beispielsweise Pharmacy First. Auch wenn Karl Lauterbach wieder Gesundheitsminister wird, dann wisse er, was er an den Apotheken habe.

Dr. Heinrich: Ich wünsche mir einen Gesundheitsminister, der sich unter anderem zur Selbstverwaltung bekennt und nicht an einer verkappten Bürgerversicherung festhält. Wichtig ist, dass wir Sofortlösungen finden, um das Gesundheitssystem zu stabilisieren – aus Ärztesicht beispielsweise in Form einer Patientensteuerung, Entbudgetierung und mehr Prävention.

Bellartz: Nicht zuletzt Corona hat gezeigt, dass wir Probleme in Bezug auf unsere Produktionsstandorte haben. Dies muss nun erst einmal angegangen werden.

Dr. Joachimsen: Es bleibt auch abzuwarten, wie genau das neue Ministerium aufgestellt wird, dies hat vermutlich auch Auswirkungen auf die personelle Struktur. Wichtig ist, dass wir nicht warten, sondern schnell handeln, denn in vier Jahren hat uns der angesprochene Tsunami eingeholt. „Wir müssen endlich starten, wenn nicht jetzt, wann dann und wenn nicht wir, wer dann?“

Preis: Wir in den Apotheken krempeln täglich die Ärmel hoch und genau dies muss der/die neue Gesundheitsminister:in auch tun. Wir haben keine Wünsche, wir haben klare Forderungen an die Politik. Da werden wir auch keinen Millimeter von abweichen.

Klemm: Wir brauchen kurzfristige Maßnahmen und müssen gemeinsam auch mit den bestehenden Stellschrauben etwas verändern.

14.06 Uhr: Tröbitscher nennt Forderungen aus der Apothekerschaft

Klemm: Ich wünsche mir Rahmenbedingungen, die auch umsetzbar sind.

Preis: Wir brauchen auch eine langfristige Perspektive. Vor allem dieses Kleinklein bringt uns ans Limit.

Dr. Heinrich: Es kann nicht sein, dass wir unsere MFA schlechter bezahlen müssen als die Verwaltungsangestellten bei der Krankenkasse – es sind dieselben Lehrberufe.

Bellartz: Unter dem noch amtierenden Gesundheitsminister war oftmals die Kommunikation an starker Kritikpunkt.

Dr. Joachimsen: Die Akteure im Gesundheitswesen brauchen endlich mehr Beinfreiheit, um nicht durch sinnbefreite Bürokratie müde gemacht zu werden. Wir brauchen jemanden mit „Mut zur Lücke“.

Preis: Wir brauchen jemanden, der uns nicht als Lobbyisten abtut, sondern und zuhört und gemeinsam mit uns etwas gestaltet. Und dies werden wir einfordern, denn wir haben eine Verantwortung, auch für unsere Patient:innen.

Dr. Heinrich: Der Aspekt der Beratung hat einen hohen Stellenwert und der nächste Gesundheitsminister sollte sich wieder umfassend beraten lassen, und zwar aus verschiedenen Perspektiven. Wir brauchen einen offenen Minister, der gerne mit uns diskutiert.

14.16 Uhr: Tröbitscher: Was ist Ihre Forderung an das neue Ministerium?

Preis: Das Apothekensterben muss ein Ende haben. Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Honorierungsystems und Apotheker:innen sollen Angebote machen, um die Zukunft des Gesundheitswesens mitzugestalten. Wir erwarten eine Zusammenarbeit mit dem neuen Gesundheitsministeriums.

Klemm: Wir brauchen dringend eine Stabilisierung des Systems und einen Neustart der GKV – wir dürfen nicht nur an Symptomen „frickeln“, sondern müssen die grundlegenden Probleme angehen, und zwar noch in dieser Legislatur. Auch bei der Pflegeversicherung muss sich etwas tun. Ich wünsche mir einen Minister/eine Ministerin, die alle Akteure einbezieht. Wir können nicht nur auf die Politik warten.

Dr. Heinrich: Wir brauchen eine Notdienstreform, eine sofortig Entbudgetierung und eine umfassende Ambulantisierung.

Dr. Joachimsen: Wir brauchen eine gute Gesundheitsversorgung, dies liegt aber nicht nur am BMG, sondern es braucht eine enge Verzahnung mit weiteren Ministerien wie dem Finanz- und Wirtschaftsministerium. Medizin aus Deutschland soll wieder führend werden.

Bellartz: Wir brauchen eine Art Taskforce oder Thinktank, bei der alle Akteure ihre Punkte einbringen können, um sich die wichtigsten herauszunehmen und zu lösen.

14.21 Uhr: Ende

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