Vorrang für Ad-hoc-Apotheke Alexander Müller, 31.10.2014 09:53 Uhr
Die AOK Hessen gerät mit ihren Exklusivverträgen zu Sterilrezepturen zusehends unter die Räder: Die Retaxationen werden von Gerichten annulliert, Vertragspartner springen ab und eine Fortsetzung der Verträge erscheint derzeit unwahrscheinlich. Jetzt hat das Sozialgericht Darmstadt (SG) in der Begründung seines Urteils von Ende August noch einmal klargestellt, dass die AOK ihren Versicherten das Recht auf freie Apothekenwahl nicht nehmen kann.
Die AOK hatte zunächst Apotheken retaxiert, die im Dezember onkologische Arztpraxen mit Sterilrezepturen beliefert hatten, obwohl sie keinen Exklusivvertrag mit der Kasse geschlossen hatten. Schon in der ersten Retaxwelle ging es um sechsstellige Beträge. Der Hessische Apothekerverband (HAV) hatte für betroffene Apotheken Widerspruch eingelegt. Da die AOK bei ihrer Haltung blieb, ging die Sache vor Gericht.
Ein betroffener Apotheker aus Darmstadt hatte von der AOK alle Abrechnungen über Sterilrezepturen aus dem Dezember auf Null retaxiert bekommen. Da er seit rund 15 Jahren mit der Praxis zusammenarbeitet, hatte er die angeforderten Verordnungen weiter wie gewohnt beliefert. Die Patienten hatten in der Praxis sogar schriftlich hinterlegt, dass sie weiter von der Apotheke im selben Haus versorgt werden möchten.
Mitte Februar retaxierte die AOK einen fünfstelligen Betrag. Die Apotheke sei nicht lieferberechtigt, die Kostenabrechnung daher unzulässig, hieß es zur Begründung. Mitte Mai wurde der Betrag abgesetzt. Im Juni zog der Apotheker gegen die AOK vor Gericht.
Bei einem Erörterungstermin im Juli wurde zunächst vereinbart, dass die AOK die retaxierte Summe erneut auszahlt. Für die folgenden Monate wollte die Kasse zwar neue Retaxationen aussprechen, aber nur für jeden dritten Monat die Beträge auch tatsächlich absetzen. Ansonsten wollten beide Seiten den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten.
In erster Instanz hat die AOK deutlich verloren. Das SG sieht schon in der Qualität der Versorgung Unterschiede: Die Ärzte der onkologischen Praxis hätten gute Gründe, die Apotheke zu empfehlen. Das von der Praxis durchgeführte Konzept der „ad hoc Belieferung“ möge zwar ungewöhnlich sein, gebe aber die Möglichkeit einer schnellen und sicheren Änderung der Therapie. Eine unzulässige Absprache – wie von der Kasse behauptet – konnte das Gericht darin nicht erkennen.
Die Apotheke des Vertragspartners liege dagegen 49,8 Kilometer entfernt. Die in einem Routenplaner errechnete Fahrtzeit von 35 Minuten dürfte – „dies ist gerichtsbekannt“ – gerade an Vormittagen deutlich länger ausfallen. Da die tatsächliche Zubereitungszeit in der Darmstädter Apotheke 20 bis 25 Minuten betrage, war der Vorteil der Zusammenarbeit für die Versicherten aus Sicht der Richter offensichtlich.
Das Gericht betont aber vor allem die freie Apothekenwahl der Versicherten: „Ein absolutes Verbot der Wahl unter zugelassenen Leistungserbringern in dem SGB V fremd“, heißt es in den Urteilsgründen. Einschränkungen dieses Rechts bedürften einer besonderen Begründung, wobei die „Grundrechte der Versicherten und der Apotheken zu beachten wären“. Solche Einschränkungen ließen sich aus dem Wortlaut des Sozialgesetzbuches nicht ableiten, so das Gericht.
Die Kasse könne zwar Verträge über die Versorgung mit parenteralen Zubereitungen schließen, so die Richter. Der Begriff „sicherstellen“ bedeute in diesem Zusammenhang aber kein Recht auf Exklusivität, sondern die Pflicht, ein flächendeckendes Versorgungssystem zu gewährleisten.
Auch der Wille des Gesetzgebers sei offensichtlich: Das Gericht zitiert einen Fraktionsentwurf zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG), wonach bei solchen Verträgen das Recht der Patienten zur freien Wahl der Apotheke erhalten bleiben soll. Sogar die AOK habe in den Ausschreibungsunterlagen noch selbst betont, dass das Apothekenwahlrecht „unberührt“ bleibe. Man war nur bei der Kasse davon ausgegangen, dass dieses Recht „in der Regel nicht ausgeübt wird“.
Die AOK kann gegen das Urteil Berufung einlegen. Einen zweiten Prozess vor dem Sozialgericht Marburg hat die Kasse ebenfalls verloren. Weil die AOK den Apotheker aus Sicht des Gerichts unrechtmäßig retaxiert hatte, soll er sogar den Kassenabschlag zurückbekommen.
Möglicherweise sucht man bei der AOK nach einem Weg, sich jetzt mit den Apothekern zu einigen: Die Kasse hat bislang nur die Retaxationen für den Monat Dezember tatsächlich einbehalten. Für das erste und zweite Quartal 2014 wurden zwar gegenüber Zyto-Apothekern weitere Retaxationen ausgesprochen, allerdings bislang nicht umgesetzt.
Die Exklusivverträge in 23 Gebietslosen waren im Dezember 2013 gestartet und laufen daher im November aus. Es gibt eine Option auf Verlängerung für ein weiteres Jahr. Dem Vernehmen nach hat aber bislang kein Vertragspartner der Kasse diese Option gezogen. Mindestens drei Apotheker haben ihre Verträge sogar vorzeitig gekündigt. Eine neue Ausschreibung der AOK Hessen gibt es bislang nicht.