AOK: Standard-Apotheke hat ausgedient Lothar Klein, 28.10.2019 15:20 Uhr
Eine umfassende Reform des Apothekenmarktes fordert der AOK-Bundesverband. In einem Meinungsbeitrag im AOK-Magazin „Gesundheit und Gesellschaft“ stellen Dr. Sabine Richard, Leiterin der Geschäftsführungseinheit Versorgung, und Sabine Beckmann, Leiterin der Abteilung Arzneimittel, sogar das Mehrbesitzverbot zur Disposition. Im Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sehen beide ein Stärkungsprogramm für die Präsenzapotheken zulasten des Fortschritts.
„Auch das Mehrbesitzverbot muss auf den Prüfstand. Die Rezepturherstellung kann auch zentralisiert werden und muss nicht in jeder Apotheke vorgehalten werden, denn wenn diese ohnehin mehrfach am Tag beliefert wird, kann dies genausogut die Rezepturen umfassen“, schlagen bei Autoren als Ansätze für eine durchgreifende Apothekenreform vor. Gefordert seien mehr Flexibilität für wirtschaftliche Strukturen, angepasst an den Bedarf in den Regionen und neue Arbeitsformen, die auf den Wertewandel des Nachwuchses eingingen.
Stattdessen schlage Spahns Gesetzentwurf eine andere Richtung ein: „Anstatt die Chancen der Digitalisierung und Flexibilisierung auch effektiv für eine Stärkung der Versorgungsstrukturen in der Fläche zu nutzen, sollen innovative Lösungen künftig verboten werden. Damit haben die Ängste der Apotheker vor der Innovationskraft des ausländischen Wettbewerbers gesiegt.“ Mehr noch: Das Vorhaben gefährde „zweifellos die regionale Versorgung“.
Deutsche Pharmazeuten wehrten sich gegen die Online-Konkurrenz und blockierten die Weiterentwicklung der Apotheken. Der Gesetzgeber sollte die verkrusteten Strukturen aufbrechen: „Denn wer sich neuen Ideen verschließt, gefährdet die Versorgung mit Medikamenten auf dem Land.“ In der Auseinandersetzung dürfe es nicht mehr nur um Boni, Fixpreise und den Schutz vor unliebsamer Konkurrenz gehen. In Zeiten des demografischen Wandels gehe es vor allem um die Frage, wie Arzneimittel weiterhin schnell und sicher zu den Patienten kämen: „Insbesondere in ländlichen Regionen muss die Rolle der Apotheke neu gedacht werden. Spätestens, wenn dort Apotheken geschlossen werden, weil Fachkräfte fehlen, hilft ein Versandhandelsverbot für Arzneimittel nicht weiter.“ Ohne eine strukturelle Weiterentwicklung sei die ländliche Versorgung auf Dauer gefährdet. Wie Ärzte und Kliniken müssten auch Apotheker über neue Betriebsformen nachdenken, die gleichzeitig attraktiv für den Nachwuchs seien.
Statt in die Zukunft zu denken, biete Spahn „als Ausgleich für die nicht erfüllbare Forderung der Apotheken nach einem Versandhandelsverbot den Apothekern pauschal eine zusätzliche Vergütung von 150 Millionen Euro für neue Beratungsangebote. „Gleichzeitig sollen sinnvolle, auch digitalisierte Weiterentwicklungen der Arzneimittelabgabe, wie zum Beispiel Abgabeautomaten mit Online-Beratung, verhindert werden. Und dies von einem Gesundheitsminister Jens Spahn, der digitalisierte Angebote an anderer Stelle mit hohem Engagement fördert.“
Wer die Debatten in den vergangenen drei Jahren verfolgt habe, könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dabei nicht in erster Linie um die beste Versorgung von Patienten gehe, sondern primär um die Versorgung von Apothekern. „Schließlich sehen die kampagnenstarken Pharmazeuten täglich viele Patienten. Und jeder Patient ist schließlich auch ein Wähler“, so die Kritik.
Aus Sicht der beiden AOK-Managerinnen verschärft eine Beschränkung des Versandhandels verschärft das Problem der Arzneimittelversorgung eher. „Trotzdem lehnt die Apothekerschaft jede Diskussion ab, die sich um die Weiterentwicklung der ‚Apotheke‘ dreht. Beharrlich verlangen sie, dass eine Apotheke auch in der Zukunft genauso aussieht wie bisher“, so der Text. Die Frage, ob jede Apotheke zum Beispiel ein Labor braucht – das in der Regel schlecht ausgelastet sei – werde stereotyp mit „ja“ beantwortet. Eine Apotheke solle auch in Zukunft nur von einem Apotheker geführt werden können. Auch eine Ausdehnung des Mehrbesitzverbotes auf mehr als vier Filialen lehne die ABDA ab, obwohl seit Jahren immer mehr Einzelapotheken von Filialapotheken mit Angestellten verdrängt würden: „Offensichtlich sind Apotheken-Ketten attraktiv. Die schnelle Verfügbarkeit des riesigen Arzneimittelsortiments garantiert der Großhandel, der jede Apotheke bis zu sechsmal täglich beliefert. Dies wird in der Diskussion oft übersehen und inzwischen auch unter Klimagesichtspunkten diskutiert.“
Ebenfalls auf die Agenda gehöre die strukturelle Weiterentwicklung der Apotheken. Doch mit dem Gesetz zur Stärkung der inländischen Vor-Ort-Apotheken setze Spahn auf die Konservierung der Strukturen. Nicht nur, weil der Entwurf den Fachkräftemangel ausklammere. Er sehe auch vor, dass Botendienst- und Beratungsmöglichkeiten „im Wege der Telekommunikation“ ausgebaut würden. „Diese künstliche Abgrenzung zwischen Botendienst und Versandhandel scheint lediglich für die hier ringende Interessengruppe von Relevanz zu sein.“
Weiterhin stärke das geplante VOASG „per Ermächtigungsnorm“ die Apothekenbetriebsordnung, wonach „unzulässige Formen der Arzneimittelabgabe“ ausgeschlossen werden könnten. Prompt werde in dem Entwurf dem umstrittenen Arzneimittelabgabeautomaten der niederländischen Versandapotheke DocMorris die rechtliche Grundlage entzogen. Diese Innovationsfeindlichkeit solle nun im Gesetzesentwurf festgeklopft werden.
Stattdessen drehten sich die Debatten vorwiegend ums Geld: Für jede abgegebene Packung sollten Apotheker künftig einen Festzuschlag von 20 Cent erhalten. Die Zuschläge sollen in einen Fonds fließen, den die Apothekerschaft verwalten soll. „Das bedeutet: Die Kasse soll Mittel völlig unabhängig davon bereitstellen, ob sie den Versicherten überhaupt zugute kommen.“ Der Gesetzentwurf schweige sich diskret über Einzelheiten aus. Das verwundere nicht, schließlich seien die zugesagten 150 Millionen Euro nur ein „willkürlich gesetzter Betrag, Spielgeld, mit dem sich der Gesetzgeber die Zustimmung der Apotheker erkaufen will, damit diese nicht mehr auf dem Versandhandelsverbot bestehen.“
Der vorliegende Gesetzentwurf zementiere die bestehenden Versorgungsstrukturen, obwohl eine Weiterentwicklung dringend Not tue. Denn ausgehend aus den Bedarfen einer alternden Bevölkerung sowie der begrenzten Zahl an Fachkräften stelle sich die Frage, wie die Arzneimittelversorgung auch künftig regional in hoher Qualität sichergestellt werden könne. Wenn für eine vollversorgende Apotheke mit entsprechenden Dienstleistungen, Öffnungszeiten kein Nachfolger als Apothekeninhaber zu finden sei, könne eine Rezeptsammelstelle nicht die einzige Alternative sein.
„Auch wenn der Versandhandel und Online-Beratungsangebote künftig an Bedeutung gewinnen, sollte es auch weiterhin persönliche pharmazeutische Angebote geben, die aber nur mit deutlicher struktureller Flexibilisierung der Anforderungen an eine Apotheke in der Fläche erhalten werden können. Dies ist mit dem Standardmodell einer vollversorgenden Apotheke auf Dauer nicht leistbar“, so die Autorinnen.
Durch bedarfsabhängige Flexibilisierung der Anforderungen an die Räumlichkeiten, die vorrätig zu haltenden Dienstleistungen sowie die Öffnungszeiten, aber auch durch Öffnung für mobile und digitale Beratungs- und Arzneimittelabgabestellen könnten regionale Versorgungsangebote wirtschaftlich tragfähig erhalten beziehungsweise aufgebaut werden, schlägt der AOK-Bundesverband vor.