Von Zeit zu Zeit sorgen die Krankenkassen mit Positionspapieren zu einer radikalen Neugestaltung des Apothekenmarkts für Aufregung. Über seinen Kanal „Gesundheit + Gesellschaft“ präsentiert der AOK Bundesverband jetzt folgende These: Die Tätigkeiten von Apothekerinnen und Apothekern hätten sich gewandelt, daher müssten auch Ausbildung und Honorierung angepasst werden. Die moderne „Zukunftsapotheke“ stellt für die Kasse dabei wohl eher eine Abgabestelle dar.
Arzneimittel würden zwar privatwirtschaftlich produziert und vertrieben, seien jedoch untrennbar mit dem Menschenrecht auf Gesundheit verbunden, heißt es in dem Aufsatz. Daher würden sie in Europa nicht wie normale Marktgüter behandelt. Apotheken seien für Patienten die Bezugsquelle und unterlägen strengen staatlichen Vorschriften. Dies führe zu einem Widerspruch: „Die Interessen der Bevölkerung an einer dauerhaft finanzierbaren Versorgung mit dem Gut Gesundheit stehen potenziell im Widerspruch zu den finanziellen Interessen der im Markt agierenden Apotheker.“
Die klassische Markttheorie unterscheide zwischen Anbietern und Konsumenten, jedoch kämen bei Arzneimitteln gleich vier Akteure mit unterschiedlichen Interessen zusammen, heißt es in dem Papier: der Anbieter, also der pharmazeutische Unternehmer oder der Apotheker, der Arzt, der die Entscheidungen treffe, die Krankenkasse, die die Kosten trage, und der Patient, der der Nutznießer sei.
Die letzte größere Reform der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) liege bereits 20 Jahre zurück. Apothekerverbände klagten, dass die nahezu unveränderten Regelungen zur Handelsmarge kein wirtschaftliches Arbeiten mehr ermöglichten. Reformbedarf sehen aber auch die Autoren des Artikels: Sie halten einen transnationalen Vergleich für hilfreich für eine rational nachvollziehbare Neuordnung. Denn in der EU gebe es große Unterschiede in der Apothekervergütung, Eigentumsregelungen und Ausbildung. „Die Zeit ist reif, einen EU-weit einheitlichen Regelungsrahmen für öffentliche Apotheken einzuführen.“
Die klassische Apothekerausbildung umfasse Disziplinen wie Chemie und Biologie. In großen westeuropäischen Ländern seien die Studienjahre bis zum ersten Abschluss länger als in anderen Ländern: in Deutschland und Großbritannien beispielsweise vier Jahre, in Frankreich sechs Semester. Italien habe die Mindeststudiendauer sogar von vier auf fünf Jahre erhöht. In Skandinavien dagegen sei ein dreijähriges Bachelor-Studium ausreichend.
Letzteres müsste laut Artikel jedoch völlig ausreichend sein, denn bis in die 50er-Jahre hätten Apothekerinnen und Apotheker zwar noch Arzneimittel selbst hergestellt, heute aber dominierten Fertigarzneimittel. Ausnahmen bildeten dermatologische und onkologische Zubereitungen, die aber von spezialisierten Apotheken hergestellt würden.
Dennoch verteidigten viele Standesorganisationen den besonderen Status der Apotheke, wie in Italien, wo nicht alle Apotheker verschreibungspflichtige Arzneimittel abgeben dürften. So dürften sie in Verbrauchermärkten ausschließlich nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel verkaufen. Der Grund hierfür sei der starke Widerstand der italienischen Apothekerverbände.
In den meisten westeuropäischen Ländern unterliege auch die Anzahl und das Eigentum von Apotheken strengen Regeln, mit Ausnahme von Großbritannien und den Niederlanden. In Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien könnten Apotheken nur von einem einzelnen Apotheker oder einer kleinen Gruppe geführt werden. Außerdem dürfe ein Apotheker in Deutschland nur bis zu vier Apotheken besitzen. In Frankreich, Italien und Spanien sei die Eröffnung einer neuen Apotheke an eine Mindestzahl von versorgten Einwohnern gebunden; in Italien und Spanien werde zusätzlich einen Mindestabstand zwischen Apotheken verlangt.
Auch die Handelsmarge für Arzneimittel werde in allen EU-Ländern streng reguliert, jedoch gebe es Unterschiede bei der Berechnung. Am einfachsten nachzuvollziehen sei eine feste Gebühr wie in den Niederlanden (7 Euro pro Packung) und Großbritannien (1,27 Pfund pro Packung). In anderen Ländern bilde sich das Honorar üblicherweise aus festen und prozentualen Bestandteilen: In Deutschland setze sich die Marge als Summe aus einem festen Betrag – zurzeit 8,35 Euro – und einem Prozentsatz – zurzeit 3 Prozent – zusammen. Frankreich, Italien und Spanien nutzten eine Mischung aus prozentualen Preisbändern und festen Gebühren, um die Apothekenmarge degressiv zu gestalten. In Italien sei kürzlich eine neue Marge eingeführt worden.
Der Vorschlag der Autoren lautet, eine einheitliche EU-Regelung für die Apothekerausbildung zu schaffen. Statt eines Flickenteppichs solle eine Mindeststudiendauer von drei Jahren gelten, wobei der Fokus auf der „grundlegende Dienstleistung der Arzneimittelabgabe“ liegen und „Überqualifizierung“ vermieden werden müsse. Zudem sollten betriebswirtschaftliche Kenntnisse für eine erfolgreiche Unternehmensführung vermittelt werden.
Die Inhaberschaft und Standortwahl öffentlicher Apotheken sollten außerdem liberalisiert und den lokalen Märkten überlassen werden. Die meisten europäischen Apotheken seien ohnehin bereits private Wirtschaftsbetriebe, in denen Apotheker sowohl als Heilberufler als auch als Wirtschaftsakteure agierten. Dadurch gewinne Handelstätigkeiten oft mehr Gewicht als die Gesundheitsversorgung, heißt es in dem Artikel. Das zeige sich zum Beispiel daran, dass Apotheken zusätzlich Produkte wie Nahrungsergänzungsmittel oder Anti-Aging-Produkte anböten.
Die Apotheken sollten nur eine feste Gebühr je Verschreibung von den Kassen erhalten statt eines prozentualen Anteils, der jährlich an die Inflationsrate angepasst werde. Zwar wird in dem Artikel nicht genannt, wie hoch die Gebühr ausfallen soll, aber darauf hingewiesen, dass man den „Marketing-Vorteil“ der Monopolstellung in Rechnung stellen müsse: Apotheken könnten von ihrem Monopol auf verschreibungspflichtige Arzneimittel profitieren und zusätzliche Produkte verkaufen. In ländlichen Gebieten könnten Ausnahmeregelungen zur Unterstützung dienen.
Handelsmargen, die vom Preis abhängen, seien nur dort gerechtfertigt, wo hohe Lagerkosten bestünden. „Das ist bei erstattungsfähigen Arzneimitteln sicher nicht der Fall, da Großhändler überall in Europa einen täglichen Lieferdienst anbieten. Weder ist in der Apotheke ein großes Sortiment an Produkten ständig vorzuhalten, noch sind teure Produkte mit größeren Beträgen vorzufinanzieren“, heißt es in dem Artikel.
Die gesamte Handelskette für Arzneimittel sei weitgehend in privater Hand, sodass Apotheken zusätzliche Einkommensquellen durch Verhandlungen mit Großhändlern erschließen können. „So geschieht es bereits in Großbritannien und den Niederlanden und so gilt es auch generell für Wirtschaftsgüter.“
Autoren des Aufsatzes sind Gisbert W. Selke vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) sowie Riccardo Roni, Direktor des Dienstes für Arzneimittelpolitik und pharmazeutische Unterstützung in der Regionalen Agentur für Gesundheitsdienste in Trient, und Livio Garattini, Direktor des Zentrums für Gesundheitsökonomie (CESAV) in Ranica/Italien.