Retaxationen

Sonder-PZN: DAV widerspricht Barmer Lothar Klein, 03.07.2017 10:11 Uhr

Berlin - 

Die Sonder-PZN wackelt. Deshalb beschäftigt die aktuelle Retaxwelle der Barmer auch den Deutschen Apothekerverband (DAV). Auf der kommenden Sitzung der Arbeitsgruppe Retaxation am Donnerstag wollen die Experten der Landesapothekerverbände (LAV) die Lage analysieren. Dort soll ein Überblick über die aktuelle Situation erarbeitet werden. Vorab widerspricht der DAV schon mal der Kasse: Nullretaxationen bei Rezepten der Akut- und Notfallversorgung seien unzulässig.

„Sofern es sich um Retaxationen handelt, die mit einem Verstoß gegen die Abgabebestimmung gemäß Paragraf 4 Absatz 4 des Rahmenvertrages begründet werden, sieht der DAV kein Recht zur Vollabsetzung“, so ein Sprecher auf Nachfrage. Allenfalls käme ein Recht auf Teilretaxierung in Betracht, „da der Barmer ein Schaden lediglich in anteiliger Höhe zum Abrechnungswert entstanden sein kann“. Ob die Voraussetzungen dafür erfüllt seien, hänge davon ab, ob weitere, die Belieferung „ausschließende Gründe wie vor allem die Nichtverfügbarkeit der Arzneimittel gegeben sind“, so der DAV-Sprecher.

Damit widerspricht der DAV der Auffassung der Barmer. Die Kasse hält eine Nulltretaxation für zwingend: „Eine Vollabsetzung erfolgt, wenn gegen die Vereinbarungen zur Arzneimittelauswahl im Rahmenvertrag verstoßen wird, denn in diesem sind alle Lieferberechtigungen und -verpflichtungen geregelt“, so die Barmer. Nachzulesen sei das im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG): „Den Apotheker trifft die Pflicht, ordnungsgemäß vertragsärztlich verordnete Arzneimittel nur im Rahmen seiner Lieferberechtigung an Versicherte abzugeben.“

Verletze er diese Pflicht, sei dies sein Risiko: „Die Krankenkasse muss für nicht veranlasste, pflichtwidrige Arzneimittelabgaben nichts zahlen.“ Missachten Apotheker Rabattverträge, können die Kassen also den kompletten Betrag retaxieren. Die Vollabsetzung ist laut Barmer demnach „selbstverständlich zulässig“, der Auszug aus dem Urteil sei „unmissverständlich“.

Spannender als die Höhe der Absetzung ist aber die Frage, ob die Barmer überhaupt einen Anspruch hat, den von den Apothekern dokumentierten dringenden Bedarf anzuzweifeln. Im Rahmenvertrag ist für akute Fälle eine Ausnahme von der Austauschpflicht vorgesehen. Wörtlich heißt es: „Ist ein rabattbegünstigtes Arzneimittel in der Apotheke nicht verfügbar und macht ein dringender Fall die unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich (Akutversorgung, Notdienst), hat die Apotheke dies auf der Verschreibung zu vermerken, das vereinbarte Sonderkennzeichen aufzutragen und ein Arzneimittel nach den Vorgaben des Absatzes 4 abzugeben.“

Genau auf diesen Passus verweist die Barmer: Nur wenn alle diese Möglichkeiten ausgeschlossen seien, könne in einem Notfall ein anderes, teureres Arzneimittel abgegeben werden. Offenbar meint die Kasse, eine Lücke entdeckt zu haben: Wie ein „dringender Fall“ zu interpretieren und wann die „unverzügliche Abgabe eines Arzneimittels erforderlich“ ist, ist im Rahmenvertrag nicht eindeutig geregelt. Nur beispielhaft sind Akutversorgung und Notdienst genannt.

Der Streit geht also im Kern darum, wer die Hoheit hat, Rahmenbedingungen für die Akut- und Notfallversorgung auslegt – der abgebende Apotheker oder die Kasse. Die Auslegungshoheit ist weder aus den gesetzlichen Vorschriften, noch aus dem Rahmenvertrag herauszulesen.

Bundesweit flattern Apothekern derzeit Nullretaxationen der Barmer ins Haus, weil sie angeblich in dringlichen Fällen nicht den Regeln entsprechend reagiert haben. Für die Barmer kommt es bei der Bewertung von Notfallsituationen „immer auf den Einzelfall an.“ Offenbar vertritt man in Wuppertal die Auffassung, dass nicht jeder Akutfall zu rechtfertigen ist. Einen ähnlichen Vorstoß hatte vor zwei Jahren die DAK genommen; die Kasse ruderte nach öffentlichem Protest bei der Retaxation eines Rezepts für die Notfallversorgung zurück.

Tatsächlich beansprucht die Barmer die Auslegung des akuten Bedarfs für sich: „Die Diskussion eines Einzelfalles und die Prüfregularien gehören in das Verfahren der Rechnungsprüfung der Vertragspartner“, so ein Sprecher der Barmer. „Wichtig ist, dass der Geist der Vereinbarung mit dem DAV zur Substitution vertragspartnerschaftlich gelebt werden muss und dass dazu eine plausible Anwendung der Regularien gehört. Dies bedarf beidseitiger Akzeptanz der Regeln.“

Dass die Kasse immer wieder von „Einzelfällen“ spricht, ist ein Zeichen, dass derzeit jeder Akutfall auf seine Plausibilität geprüft und gegebenenfalls in Frage gestellt wird. Je nach Zeitpunkt der Abgabe, Lage der Apotheke und betroffenem Arzneimittel scheint die Kasse die Abrechnung zu beanstanden. Dass den Apothekern nicht einmal die Gelegenheit gegeben wurde, die Eilbedürftigkeit nachzuweisen, spricht dafür, dass es der Kasse um wirtschaftliche Motive geht.