„Steuerungswahn und Allmachtsfantasien“

Ärzte: Kassen ruinieren Gesundheitssystem

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Berlin -

Zum Jahresauftakt hat der Ersatzkassenverband (vdek) in Berlin dringende Finanz- und Strukturreformen gefordert. Neben Klinik- und Notfallreform sollten auch die Wartezeiten in den Arztpraxen ein Schwerpunktthema für Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sein. Die Antworten aus der Ärzteschaft fallen deutlich aus.

„Es ist bezeichnend für die Realitätsferne und Kaltschnäuzigkeit sowohl ehrenamtlicher als auch hauptamtlicher Kassenfunktionäre, von den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten immer mehr Leistungen zu fordern, obwohl schon die bisher erbrachten nicht vollständig bezahlt werden“, kommentiert der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). „Unverschämt ist es, wenn dabei noch die Unterstellung mitschwingt, Ärztinnen und Ärzte würden zu wenig arbeiten. Fakt ist, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen zu viel Zeit für unsägliche Kassenbürokratie aufwenden müssen, die für die Versorgung der Patienten fehlt.“

Und weiter: „In den Glaspalästen des vdek hat man offensichtlich den Schuss noch nicht gehört. Die Praxen stehen vor dem Kollaps. So geht es nicht weiter! Wenn sich die Krankenkassen nicht endlich ihrer eigentlichen Aufgabe besinnen, eine adäquate Versorgung ihrer Versicherten auch adäquat zu finanzieren, werden sie sehenden Auges das bewährte System der ambulanten Versorgung vor die Wand fahren“, so Dr. Andreas Gassen, Dr. Stephan Hofmeister und Dr. Sibylle Steiner in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Bodenhaftung verloren

Auch der Virchowbund wurde deutlich: Die Äußerungen seien ein „erschreckendes Zeugnis dafür, wie weit Kassenfunktionäre inzwischen die Bodenhaftung verloren haben“, so der Vorsitzende Dr. Dirk Heinrich. „Die Ideen der vdek-Spitze sind gruselig: massive Einmischung in die Praxisorganisation, mehr Sprechstunden bei weiterhin zu knappen und leistungsfeindlichen Budgets und schärfere Sanktionen gegen Ärzte. Das sind keine Visionen, wie man die ambulante Versorgung für die Zukunft ausrichtet, das ist ein Schlag ins Gesicht der Ärzte und der Abschied der vdek-Kassen aus der Versorgungsverantwortung für ihre Versicherten. Der vdek mauert sich in einer Parallelwelt ein.“

Die Sprechstundenzeiten für GKV-Versicherte seien bereits 2019 zwangsweise ausgeweitet worden – als Ausgleich dafür wurden Leistungen für Neupatienten erstmals voll bezahlt, ohne Abschläge durch Budgetdeckel. Diese Neupatientenregelung sei 2022 gekippt worden, doch die Sprechstundenzahl wurde nicht wieder gesenkt. „Wer jetzt noch mehr Sprechstunden bei einer Ausweitung der Budgetierung fordert, der kultiviert die eigene Gier nach unbezahlten Leistungen. Das ist vorsätzliche und fortgesetzte Zechprellerei.“

Wenn der vdek die Kosten für eine geforderte Entbudgetierung für alle Praxen auf rund zwei Milliarden Euro beziffere, gebe er damit ja zu, dass sie Leistungen in einem solchen Gegenwert für ihre Versicherten erhalten, aber nicht bezahlen wollen. „Wenn dann auch noch die Kassen unsere Medizinischen Fachangestellten als Sozialversicherungsangestellte mit zum Teil 54 Prozent höheren Gehältern abwerben, dann ist das Diebstahl an der Ärzteschaft.“

Schon jetzt bedeuteten 25 Sprechstunden eine tatsächliche Arbeitszeit von 50 und mehr Stunden pro Woche für Praxisinhaber. Eine Hauptursache: Die immer mehr Zeit verschlingende Bürokratie, oft ausgelöst durch unnötige Anfragen und Prüfungen der Krankenkassen. Der Virchowbund fordert ein Ende dieser Misstrauenskultur, unter anderem durch eine Bagatellgrenze für Regresse.

Steuerungswahn und Allmachtsfantasien

Der Realitätsverlust der Krankenkassen zeige sich übrigens auch in der Wortwahl eines Kassenvertreters, der auf der Pressekonferenz statt von Beitragsgeldern der Versicherten von „unserem Geld“ sprach. „Das Rollenverständnis der Kassen ist völlig aus den Fugen geraten. Sie verwalten das Geld der Versicherten, der Patientinnen und Patienten, und sollten Strukturen in der ambulanten Versorgung sichern, statt sie zu zerstören,“ so Heinrich.

„Steuerungswahn und Allmachtsfantasien der vdek-Spitze passen nicht in eine Zeit, in denen Ministerium und Ärzteschaft ernsthaft um den Fortbestand der ambulanten Versorgung ringen. Solche Stellungnahmen des vdek sind da einfach nur verstörend. Sie schrecken junge Ärztinnen und Ärzte davon ab, eine Praxis zu eröffnen, und sie treiben ältere Praxisärzte vorzeitig in den Ruhestand. Diejenigen Praxisärzte, die noch übrigbleiben, müssen und werden ihre Praxen auf die wirtschaftlich immer schwierigeren Bedingungen ausrichten. Die reine Kassenarzt-Praxis hat immer weniger Zukunft, auch dank des destruktiven Verhaltens der Krankenkassen“, prognostiziert Heinrich.

Mehr Sprechzeiten

Uwe Klemens und Ulrike Elsner vom bdek hatten unter anderem eine Erhöhung der Mindestsprechstundenzeite sowie die Verpflichtung zur elektronischen Terminbuchung und Videosprechstunden gefordert. Bei Nichteinhaltung sollte es Strafen geben. Außerdem müsse das Vergütungssystem überprüft werden, um mögliche Fehlanreize für medizinisch unnötige Arztbesuche abzubauen. Für die Verordnung von Dauermedikation sollten neue Verfahren eingeführt werden.

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