Ärzte: 600-Millionen-Paket ist „Unverschämtheit“ dpa, 04.01.2019 08:18 Uhr
Viele Kassenpatienten ärgern sich über lange Wartezeiten für Arzttermine. Die Politik will deswegen an mehreren Stellen gegensteuern – doch das bringt viele Praxisärzte auf die Palme. Gibt es Kompromisse? Die Kassenärzte fordern noch Änderungen an geplanten Vorgaben für Sprechzeiten, die gesetzlich Versicherte schneller an Termine bringen sollen.
„Ich habe große Zweifel, dass das Gesetz, wenn es so kommt, die gewünschte Wirkung entfaltet“, sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. Es sei ein richtiger Ansatz, mehr Geld für mehr Leistungen vorzusehen. Dies müsse man aber auf die regionalen Bedürfnisse anpassen – etwa mit extra Anreizen für Sprechstunden abends oder samstags. „Das mit so einem holzschnittartigen Gesetz über die ganze Republik zu ziehen, wird nicht funktionieren.“
Ein von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf den Weg gebrachter Entwurf sieht vor, dass Praxisärzte künftig mindestens 25 statt 20 Stunden pro Woche für Kassenpatienten anbieten müssen. Augenärzte, Frauenärzte und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte sollen fünf Stunden offene Sprechzeiten ohne feste Termine einrichten. Ärzte sollen Zuschläge bekommen, wenn sie neue Patienten aufnehmen. Die bisher nach Ländern unterschiedlich organisierten Telefon-Servicestellen für Termine sollen bundesweit zu Rund-um-die-Uhr-Angeboten ausgebaut werden.
„Niedergelassene Ärzte arbeiten schon jetzt weit mehr als 20 Stunden in der Woche. Aber es gibt viel mehr als Sprechstunden in der Praxis – Hausbesuche, Terminieren von Untersuchungen, Bereitschaftsdienste“, sagte Gassen. Mögliche zusätzliche Vergütungen von 600 Millionen Euro im Jahr für die Ärzte klängen toll. „Aber wenn man es auf die einzelne Praxis herunterbricht, reden wir über 4000 Euro brutto mehr Umsatz im Jahr. Dafür die Praxisstruktur ändern zu müssen und möglicherweise eine zusätzliche Arzthelferin einzustellen, die das organisiert, da sagen viele: Das ist eine Unverschämtheit.“
Viele Hausärzte und HNO-Ärzte hätten auch schon offene Sprechstunden, sagte der KBV-Chef. „Es ist ja nicht üblich, dass Patienten sagen, in vier Wochen kriege ich eine Grippe, ich melde mich schon mal an.“ Jetzt par Ordre de Mufti fünf offene Stunden vorzugeben, sei nicht zielführend. „Die Stunde hat 60 Minuten – ob ich die mit offenen Sprechstunden oder bestellten Terminen zubringe, davon kriegt sie ja nicht 70 Minuten. Es entsteht nicht mehr Arztzeit, wenn man Praxisabläufe mit mehr offenen Sprechstunden chaotisiert.“ Der Kassenärzte-Chef mahnte: „Es ist realitätsfern, die Illusion zu erwecken, wenn die Ärzte nur wollten oder mehr arbeiteten, könnte jeder gesetzlich Versicherte zu jeder Tages- und Nachtzeit in jeder Fachgruppe einen Termin bekommen. Das wird mit keiner gesetzlichen Regelung dieser Welt darzustellen sein. Dafür haben wir schlicht und ergreifend viel zu wenig Ärzte.“
Es bekomme aber „nahezu jeder“ den Termin, den er brauche. Viele Termine würden sogar ohne ärztliche Steuerung vergeben. „Es gibt auch Ecken in der Republik, wo das vielleicht nicht so hundertprozentig klappt.“ Die Versorgung sei aber auch im Vergleich mit anderen Ländern hervorragend, zumal es eigentlich keine Zugangsschranken gebe. „Man kann als gesetzlich versicherter Patient zu jedem Arzt seiner Wahl, ob Hausarzt, Facharzt oder Superspezialist, hingehen und wird da behandelt.“ Möglicherweise gebe es Wartezeiten im Mittel unter drei bis fünf Tagen, selten einmal von drei Wochen, erläuterte Gassen. Der Kassenärzte-Chef betonte auch mit Blick auf einen vorgesehenen Austausch mit Spahn bei einer KBV-Veranstaltung am 18. Januar: „Wir haben Hoffnung, dass mit einigen Änderungen noch etwas Vernünftiges mit dem Gesetz erreicht werden kann.“ Es enthalte auch eine Vielzahl begrüßenswerter Punkte wie den Ausbau der Telefonservice-Angebote.
Zurückhaltend äußerte sich Gassen zu Reformplänen Spahns für eine Entlastung überfüllter Rettungsstellen in vielen Krankenhäusern. Wenn die Länder festlegten, welche Kliniken gemeinsame „Notfallzentren“ von niedergelassenen Ärzten und Klinikärzten haben sollen, dürfe es zu keinem „Wünsch-dir-was-Szenario“ kommen. Die Hoheit der ambulanten Notfallversorgung müsse in Händen der niedergelassenen Ärzte bleiben.