Abda will Rahmenvertrag aushebeln Patrick Hollstein, 02.03.2023 10:52 Uhr
Die Abda fordert nicht nur mehr Geld für die Apotheken, sondern auch mehr Freiheiten für die Versorgung der Patientinnen und Patienten. In der Stellungnahme zum geplanten Generikagesetz geht es um die Verstetigung der Corona-Sonderregelungen – und nicht weniger als die gesetzliche Aushebelung des Rahmenvertrags.
„Die Verbände haben Fehler gemacht“, mit diesem Eingeständnis überraschte im November Holger Seyfarth aus Hessen beim APOTHEKE ADHOC Webinar zum Thema Nullretaxationen. „Man kann nicht einem Partner – den Krankenkassen – fast die Deutungshoheit überlassen und den anderen lässt man am ausgestreckten Arm verhungern.“ Das sei unverhältnismäßig und müsse von der Politik aufgegriffen werden: „Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen man wieder auf Augenhöhe miteinander verhandeln kann. Im Moment sind wir ganz klar am kürzeren Hebel.“
Genau diesen Schritt geht die Abda jetzt. Weil die Kassen nicht bereit sind, die Abgaberegeln zu lockern und Nullretaxationen zu streichen, soll der Gesetzgeber die Sache regeln. In ihrer Stellungnahme zum Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) fordert die Apothekerschaft daher, dass die Sonderregeln verstetigt werden.
Gesetz statt Vertrag
Konkret sollen in § 129 Absatz 1 Sozialgesetzbuch (SGB V) acht neue Punkte (10 bis 18) eingefügt werden, wobei einige – hier kursiv dargestellt – wortwörtlich aus der Sars-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung übernommen werden. Andere – hier fett hervorgehoben – sind neu.
10 Apotheken wählen das auf der Grundlage der Verordnung abzugebende Arzneimittel aus den in der Apotheke vorrätigen Arzneimitteln aus.
11 Wenn das abzugebende Arzneimittel in der Apotheke nicht vorrätig ist, dürfen Apotheken an den Versicherten ein in der Apotheke vorrätiges wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben.
12 Ist kein wirkstoffgleiches Arzneimittel in der Apotheke vorrätig und ist das abzugebende Arzneimittel auch nicht lieferbar, darf ein lieferbares wirkstoffgleiches Arzneimittel abgegeben oder hergestellt und abgegeben werden.
13 Für die Feststellung der Lieferbarkeit ist die Nachfrage bei einem pharmazeutischen Großhändler erforderlich und ausreichend; falls das Arzneimittel nicht über den Großhandel vertrieben wird, genügt eine einmalige Anfrage bei dem pharmazeutischen Unternehmer; bei der Dienstbereitschaft während der Zeiten nach § 23 Absatz 1 Satz 2 der Apothekenbetriebsordnung ist keine Nachfrage bei einem pharmazeutischen Großhändler oder pharmazeutischen Unternehmer erforderlich.
14 Sofern weder das auf der Grundlage der Verordnung abzugebende noch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorrätig oder lieferbar ist, dürfen Apotheken nach Rücksprache mit dem verordnenden Arzt, von der im Falle von dessen Nichterreichbarkeit abgesehen werden kann, den Wirkstoff in einer anderen Darreichungsform oder ein pharmakologisch-therapeutisch vergleichbares Arzneimittel an den Versicherten abgeben; dies ist auf dem Arzneiverordnungsblatt zu dokumentieren.
15 Satz 14 gilt entsprechend für den Fall, dass der verordnende Arzt den Austausch des Arzneimittels ausgeschlossen hat oder eine Verordnung über einen Wirkstoff der Substitutionsausschlussliste gemäß der Arzneimittel-Richtlinie Anlage VII Teil B vorliegt.
16 Bei Abgaben gemäß den Sätzen 11 bis 15 dürfen Apotheken ohne Rücksprache mit dem verordnenden Arzt von der ärztlichen Verordnung im Hinblick auf Folgendes abweichen, sofern dadurch die verordnete Gesamtmenge des Wirkstoffs nicht überschritten wird:
- die Packungsgröße, auch mit einer Überschreitung der nach der Packungsgrößenverordnung definierten Messzahl,
- die Packungsanzahl,
- die Entnahme von Teilmengen aus Fertigarzneimittelpackungen, soweit die abzugebende Packungsgröße nicht lieferbar ist, und
- die Wirkstärke, sofern keine pharmazeutischen Bedenken bestehen.
17 Im Fall der Verschreibung von Substitutionsmitteln nach § 5 Absatz 6 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung findet Satz 16 Nummer 1, 2 und 4 keine Anwendung.
18 Versorgen die Apotheken gemäß der Sätze 10 bis 17 finden keine Beanstandungen und Retaxationen statt.
Zusammengefasst: Apotheken sollen weiterhin austauschen dürfen, wenn ein Präparat nicht vorrätig ist – die Kassen hatten dies in ihren Stellungnahmen als viel zu weit reichend strikt abgelehnt. Außerdem soll bei Nichtverfügbarkeit die Herstellung als Rezeptur oder Defektur von vornherein erlaubt werden, auch die Anforderungen an den Defektnachweis sollen gesetzlich geklärt werden. Ein Austausch der Darreichungsform soll nach Rücksprache mit Arzt möglich sein – und bei Nichtreichbarkeit auch ohne.
Zeitverzug vermeiden
Ziel ist es laut Abda, „den Apotheken mehr Flexibilität zu verschaffen und damit die Versorgung der Versicherten ohne unnötigen Zeitverzug sicher zu stellen“. Dies gelinge, indem statt auf die Lieferfähigkeit primär auf die Vorrätigkeit des abzugebenden Arzneimittels abgestellt werde. Das bisherige Verfahren zur Feststellung der Lieferfähigkeit stelle sich nämlich als „bürokratisch, schwerfällig und retaxanfällig“ dar, zumal im Rahmenvertrag unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten sein, die die Anwendung „unsicher und retaxanfällig“ machten. Beispielsweise ergeben sich laut Abda aus der doppelten Abfrage bei ein- und demselben Großhandel unnötige Verzögerungen bei der Versorgung, „da die zweite Abfrage in der Regel kein anderes Ergebnis hervorbringt als die erste“.
Die gewünschten erweiterten „Kompetenzen des Apothekers, bei mangelnder Lieferfähigkeit mit oder ohne Rücksprache mit dem Arzt schnell agieren und den Versicherten versorgen zu können, tragen zu einer Verbesserung des Versorgungsgeschehens insgesamt bei, wobei dem ärztlichen Therapiewillen aufgrund der Rücksprache in wesentlichen Fällen Rechnung getragen wird“, so die Abda.
Keine Abstriche bei Einsparungen
In der Pandemie hätten die Apotheken bewiesen, dass Einspareffekte zugunsten der Krankenkassen auch unter den gelockerten Abgaberegelungen ohne Abstriche erzielt werden: Eine vom Deutschen Arzneiprüfungsinstitut (DAPI) durchgeführte Analyse sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Abgabe von rabattbegünstigten beziehungsweise preisgünstigen Arzneimitteln „im Wesentlichen stabil“ geblieben seien. Die Verwendung der relevanten Sonderkennzeichen sei zwar zu Beginn der Pandemie angestiegen, dann jedoch auf das Niveau vor der Pandemie zurückgegangen. „Hierbei hat insbesondere die Abgabe rabattierter Arzneimittel, welche den gesetzlichen Krankenkassen den größten Einspareffekt beschert, nicht gelitten.“
Die Wirtschaftlichkeit habe also nicht gelitten, „damit fällt das entscheidende Argument für die bestehenden Regelungen weg“, so die Abda. „Es sollte also insbesondere für ältere oder körperlich eingeschränkte Versicherte sowie Betreuungspersonen von (kleinen) Kindern eine Flexibilisierung der Abgabevorschriften verankert werden, um gerade diesen Gruppen das mehrfache Aufsuchen der Apotheke zum Abholen des gegebenenfalls zu bestellenden Arzneimittels zu ersparen. Dies hätte den für die GKV positiven Nebeneffekt, dass deutlich weniger Botendienste abgerechnet werden würden, da Boten der Apotheke häufig die Belieferung der Versicherten übernehmen, wenn das Arzneimittel zunächst beim Großhandel bestellt werden muss.“
Austausch auch für Privatversicherte
Laut Abda sollten die Regelungen daher auch auf die private Krankenversicherung (PV) und Beihilfe sowie Selbstzahler übertragen werden – „sofern die Person, für die das Arzneimittel bestimmt ist, einverstanden ist“. Erforderlich sei dafür ein Transfer der gewünschten Regelungen ins Apothekenrecht, sprich in die Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO).
Verbot von Nullretaxationen
Außerdem sollen Nullretaxationen verboten werden. In § 129 Absatz 4 SGB V sollen dazu fünf Sätze neu eingefügt eingefügt werden:
3 Die Krankenkassen sind gehalten, bei Beanstandungen die von der Apotheke vorgetragenen Umstände des Einzelfalls unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zu berücksichtigen.
4 Vollständige Retaxationen sind unzulässig, wenn die Krankenkasse durch das abgegebene Arzneimittel von ihrer Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten befreit wurde.
5 Die Höhe einer zulässigen Beanstandung darf die preisliche Differenz zwischen dem abgegebenen und dem nach Maßgabe des Rahmenvertrages abzugebenden Arzneimittel nicht überschreiten.
6 Fehlen Angaben auf der Verschreibung oder sind diese fehlerhaft, darf dies nur beanstandet werden, wenn hierdurch einer von der Krankenkasse nachzuweisende konkrete Gefährdung der Arzneimitteltherapiesicherheit des Versicherten aufgetreten ist.
7 Die erfolgsabhängige Vergütung von Beanstandungsverfahren seitens der Krankenkassen ist unzulässig.“
Laut Abda nutzen die Krankenkassen „Verstöße“ von Apotheken gegen Abgabe- oder Abrechnungsregeln dazu, „großzügig Retaxationen auszusprechen“. Dabei werde die Erstattung des durch die Apotheke bereits abgegebenen Arzneimittels ganz oder teilweise verweigert. Nullretaxationen fänden auch in Fällen statt, in denen die Apotheke das Arzneimittel entsprechend der ärztlichen Verordnung abgegeben, also die Leistung der Sache nach erbracht habe. „Die Folge einer jeden Retaxation ‚auf Null‘ ist, dass die Apotheke den Versicherten letztlich auf eigene Kosten versorgt, unabhängig davon, ob der gesetzlichen Krankenkasse durch den Verstoß gegen Abgabeund/oder Abrechnungsbestimmungen überhaupt ein tatsächlicher Schaden entstanden ist.“
Vergesse etwa der Arzt die Dosierung, verweigerten die Krankenkassen die Zahlung vollständig – auch dann, wenn dem Versicherten die Dosierung bekannt war. Als weiteres Beispiel nennt die Abda, dass die Apotheke statt einer verordneten N2-Packung versehentlich eine kleinere Packung abgegeben hat.
Kassen müssen Schaden beweisen
Erschwerend komme hinzu, dass das Retaxationsverhalten der Krankenkassen vom Bundessozialgericht (BSG) mitgetragen werde. „Eine gesetzliche Regelung ist daher zwingend erforderlich, um die Beanstandungen der Krankenkassen auf das für die korrekte Abrechnung notwendige Maß zu begrenzen. Nullretaxationen müssen ausgeschlossen sein, wenn die Krankenkasse durch das abgegebene Arzneimittel von ihrer Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten befreit wurde. Darüber hinaus dürfen Beanstandungen nur noch in einem verhältnismäßigen Rahmen erfolgen. Verhältnismäßig bedeutet dabei, dass die Krankenkasse durch Abgabe- und/oder Abrechnungsungenauigkeiten der Apotheke überhaupt einen tatsächlichen Schaden hat. Nur dieser tatsächlich entstandene Schaden dürfte zur Kürzung herangezogen werden. An einem solchen Schaden der Krankenkassen fehlt es typischerweise in den Fällen fehlender oder unvollständiger Angaben seitens des Arztes, wenn dies zu keiner Beeinträchtigung der Interessen des Versicherten geführt hat.“
Der Rahmenvertrag sehe zwar Fallgruppen vor, in denen nicht voll retaxiert werden dürfe. „Die Praxis zeigt jedoch, dass dies nicht ausreicht, um Retaxationen auf ein den Apotheken zumutbares Maß zu beschränken. Die Krankenkassen beziehungsweise ihre Dienstleister nutzen häufig vor allem unbeachtliche Formfehler, um eine Nullretaxation vorzunehmen. In diesem Zusammenhang machen sie auch nicht in spürbarem Umfang von ihrem rahmenvertraglich festgelegten Ermessen Gebrauch, welches ihnen erlauben würde, von (Null)-Retaxationen abzusehen.“
Verschärft werde die Problematik zusätzlich dadurch, dass die Krankenkassen in einem nicht unerheblichen Umfang die Prüfung der Rezepte auf Dienstleister auslagern, deren Vergütung erfolgsabhängig gestaltet sei.