2030: Knapp 5 Millionen Menschen ohne Apotheke vor Ort Patrick Hollstein, 06.12.2023 10:30 Uhr
„An jeder Ecke eine Apotheke“, mit dieser Aussage werden seit Jahren die Forderungen nach einem höheren Honorar abgewiesen. Aber ist die Apothekendichte wirklich „zu hoch“? Und wie sieht es in der Stadt und auf dem Land wirklich aus? Exklusiv aufbereitete Zahlen zeigen, dass Millionen Menschen ohne eigene Apotheke in ihrem PLZ-Gebiet leben. Und dass vor allem diejenigen Menschen betroffen sind, die eigentlich auf eine persönliche Versorgung vor Ort angewiesen sind.
Die Zahl der Apotheken in Deutschland sinkt seit Jahren, aber laut Dr. Julius Lagodny, Data Analyst bei EL PATO Medien, zeigt dies nur die Spitze des Eisbergs: „Der Fokus auf die Zahl der Apotheken verschleiert den problematischen Trend in der Versorgung“, sagte er bei VISION.A, der Konferenz zur Zukunft des Apotheken- und Arzneimittelmarktes powered by APOTHEKE ADHOC, PTA IN LOVE und APOTHEKENTOUR. Denn die Bevölkerung entwickelt sich aus seiner Sicht nicht linear. „Innerhalb Deutschlands gibt es große Diskrepanzen.“
Aus diesem Grund hat Lagodny bei seiner Analyse die Apothekendichte in den Blick genommen, also die Zahl der Apotheken pro 100.000 Einwohner. Hier liegt Deutschland mit einem Durchschnittswert von 22 bereits jetzt im hinteren Drittel der EU-Mitgliedstaaten; der europäische Durchschnittswert liegt bei 32.
„Fortlaufende Verundichtung“
Um Aussagen auf regionaler Ebene machen zu können, hat er die Apothekendichte in den einzelnen PLZ-Bereichen analysiert. Nach seinen Angaben ist dies das kleinste mit ausreichenden sozioökonomischen Daten hinterlegte Raster in Deutschland – und kommt damit der Idee der „Nachbarschaft“ zu einer Apotheke am ehesten nahe.
Die Analyse zeigt eine fortlaufende „Verundichtung“ der Apothekenlandschaft in Deutschland. Lagen im Jahr 2016 bereits 4241 der insgesamt 8171 bewohnten PLZ-Bereiche unter dem heutigen Durchschnitt von 22 Apotheken pro 100.000 Einwohnern, sind es aktuell 4954. Statistisch ausgedrückt: Die Verteilungskurve hat sich sichtbar nach links verschoben.
Noch dramatischer: In 2138 bewohnten PLZ-Gebieten gibt es überhaupt keine Apotheke. Auch hier ist der Trend eindeutig: 2016 waren noch 1893 PLZ-Gebiete.
Gebiete ohne Apotheke
Konkret bedeutet das, dass 2023 eine Million Menschen mehr in einem PLZ-Gebiet ohne Apotheke leben als 2016. Insgesamt sind es 4,9 Millionen, von denen knapp 2,9 Millionen auf dem Land leben.
Besonders betroffen sind aufgrund der demografischen Struktur ausgerechnet Menschen, die auf eine Versorgung angewiesen sind: Knapp 1,1 Millionen Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren haben keine Apotheke in ihrem eigenen PLZ-Gebiet, 633.000 von ihnen leben auf dem Land.
Dass eine Person in einem solchen „schwarzen Loch“ wohnt, heißt Lagodny zufolge nicht zwangsläufig, dass die nächste Apotheke sehr weit entfernt ist. „Es steht für mich eher für den Trend der Ausdünnung in der Breite – und dass die generelle Wahrscheinlichkeit für schlechtere Erreichbarkeiten signifikant steigt, vor allem für vulnerable Gruppen.“
Korrelationen zur Apothekendichte
Darüber fallen in der Analyse einige Korrelationen auf:
- Je größer die Kaufkraft in Euro pro Person in einem PLZ-Gebiet, desto höher die Apothekendichte.
- Je größer die Bevölkerungsdichte, desto geringer die Apothekendichte.
- Je größer der Bevölkerungsanteil von Personen über 65 Jahren ist, desto geringer die Apothekendichte.
- Je größer der Bevölkerungsanteil von Kindern unter 14 Jahren in einem PLZ-Gebiet ist, desto geringer die Apothekendichte.
Und wie geht es weiter? Auf Basis der demografischen Vorhersagen des „Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung“ (BBR) auf Kreisebene und inpolarisierten sozioökonomischen Daten wie Alter, Kaufkraft und Einwohner:innen auf PLZ-Ebene hat Lagodny eine eigene Prognose für 2030 erstellt.
Demnach ist für das Jahr 2030 von 5179 PLZ-Bereichen unter dem heutigen Durschnittswert von 22 Apotheken je 100.000 Einwohner auszugehen – und von 2138 PLZ-Gebieten ohne eine einzige Apotheke.
Menschen in „schwarzen Löchern“
Die Zahl der betroffenen Menschen bleibt zwar relativ konstant, aber aufgrund der Altersentwicklung könnte die Zahl der Seniorinnen und Senioren ohne Apotheke vor Ort weiter steigen – vor allem auf dem Land. „In den ‚schwarzen Löchern‘ leben 2030 fast 5 Millionen Menschen, davon 1,2 Millionen über 65 Jahren“, so Lagodny.
Aber auch deutschlandweit könnte sich die Apothekendichte deutlich sinken: Ändert sich nichts, sinkt sie bis zum Jahr 2030 auf 20,3 Apotheken je 100.000 Einwohner. Im Worst-Case-Szenario könnte sie laut Lagodnys Analyse sogar auf 18 Apotheken je 100.000 Einwohner absacken – das wäre dann bald die Hälfte des derzeitigen EU-Schnitts. Aber selbst im besten Fall läge die Apothekendichte nach seinen Daten dann bei 22,4, also auf dem heutigen Niveau. „Wir reden nicht mehr davon, dass die Versorgung wieder besser wird. Wir reden davon, dass wir sie bestenfalls auf dem heutigen Niveau halten.“