Zehn Jahre Streit um Impfstoffrezepte Marion Schneider, 19.06.2018 13:44 Uhr
Seit über zehn Jahren läuft der Streit einer Arztpraxis mit den Kassenverbänden. Dabei geht es um einen Regress in Höhe von knapp 2000 Euro für vermeintlich unnötig verordnete Impfdosen.
Die Ärzte hatte in der Grippesaison 2006/2007 zunächst 250 Impfdosen bestellt, basierend auf den Zahlen des Vorjahres. Unter anderem wegen der Hysterie um die Vogelgrippe war die Nachfrage in dieser Saisaon aber besonders hoch, sodass im Oktober bereits alle Impfdosen verbraucht beziehungsweise reserviert waren. Im selben Monat bestellte die Praxis darum noch einmal 300 Ampullen nach, die aber erst kurz vor Weihnachten geliefert wurden. Grund dafür waren Lieferschwierigkeiten des Herstellers, eine zunächst gelieferte Charge war unbrauchbar. Die Verordnung datiert auf den 27. Dezember 2006.
Bis dahin hatte das Interesse der Patienten an den Schutzimpfungen bereits wieder nachgelassen und nicht alle Ampullen konnten verimpft werden. Einen kleinen Teil verkauften die Ärzte an eine andere Praxis, 250 Ampullen mussten jedoch vernichtete werden. Die Kassenverbände beantragten darum bei der Gemeinsamen Prüfeinrichtung der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein, dass die Praxis für die Schäden aufkommen solle. Die Prüfstelle kam zu dem Ergebnis, dass die Ärzte tatsächlich nur 217 Grippeimpfungen durchgeführt hätten. Unter Berücksichtigung eines Aufschlags von 10 Prozent und den weiterverkauften Apullen, müsse die Praxis 1908 Euro Schadenersatz für 200 unnötig verordnete Impfungen leisten.
Die Praxis und die Kassenärztliche Vereinigung legten Widerspruch ein und zogen dann vor Gericht. Mittlerweile ist der Fall vorm Bundessozialgericht gelandet. Ob die Ärzte unwirtschaftlich gehandelt haben, konnten die Richter aber nicht abschließend beurteilen. Das Schleswig Holsteinische Landessozialgericht (LSG), wo der Fall in der Vorinstanz verhandelt wurde, habe nicht hinreichend geprüft, welche Umstände zur Nachbestellung der Impfdosen geführt hätten.
Wenn die Nachfrage wirklich hoch gewesen sei und die Praxis die Impfdosen zur Abdeckung eines zumindest durch Wartelisten ermittelten Bedarfs nachbestellt habe, bestünden Zweifel, ob die Ärzte tatsächlich im vollen Umfang unwirtschaftlich gehandelt hätten. „Es kann auch nicht der Klägerin angelastet werden, wenn Impfstoff erst zu einem Zeitpunkt ausgeliefert und formell verordnet werden konnte, als das Interesse der Versicherten tatsächlich schon erlahmt war“, so der Senat. Ebenso wenig trage die Klägerin allein das Risiko, dass eine gelieferte Charge Grippeimpfstoff unbrauchbar war und vernichtet werden musste.
Zu klären sei, weshalb die Praxis noch am 27. Dezember die Verordnung ausgestellt hatte, als schon klar war, dass sie diese in der laufenden Saison nicht würde einsetzen können. Das LSG müsse prüfen, ob sich die Ärzte bei der Bestellung im Oktober verpflichtet hatten und verpflichten mussten, die Verordnung bei Lieferung auszustellen, um überhaupt noch beliefert werden zu können. Wenn die Praxis zu einem Zeitpunkt, als klar war, dass die Patientenzahl doch geringer sein würde, die Verordnung der Impfdosen nicht mehr rückgängig machen konnte, könnte das allein einen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nicht begründen.
Es sei nicht Aufgabe der Mediziner gewesen, den Patienten ihren Impfwunsch auszureden. „Selbst wenn dieser Wunsch teilweise irrational im Kontext der Angst vor der Vogelgrippe entstanden sein mag, war er doch auf ein versorgungsbezogen sinnvolles Vorgehen gerichtet.“ Bis heute seien dem Senat keine medizinisch-wissenschaftlichen Stimmen bekannt, die auf die Nutzlosigkeit der Grippeschutzimpfung hindeuten. Das LSG muss jetzt erneut über den Fall entscheiden.