Selbstmedikation

1 € ausgeben, 17 € sparen

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Berlin -

Was der Patient selbst bezahlt, schont das Budget der Kassen. Nach dieser Logik waren OTC-Medikamente 2004 komplett aus dem Leistungskatalog gestrichen worden – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Doch die Selbstmedikation führt aus volkswirtschaftlicher Sicht zu Einsparungen weit über die Kosten hinaus. Das ist das Ergebnis einer Studie, die im Auftrag des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) durchgeführt wurde.

Während der Patient von früher noch ein Leistungsempfänger war, nimmt der mündige und aufgeklärte Patient von heute seine Gesundheit selbst in die Hand. Ein OTC-Switch könne die Therapieoptionen erweitern und das Gesundheitssystem massiv entlasten, sagte BAH-Vize Dr. Traugott Ullrich bei der Switch-Konferenz seines Verbands in Berlin. Jeder Euro, der in der Selbstmedikation ausgegeben wird, spart laut Ullrich 17 Euro im Gesamtsystem.

Cosima Bauer von der Beratungsfirma May + Bauer rechnete vor: Angenommen, die Zahl der ärztlich behandelten Bindehautentzündungen gehe infolge der Entlassung aus der Verschreibungspflicht um 30 Prozent zurück, würden die Arzneimittelkosten im Bereich der Selbstmedikation etwa 11 Millionen Euro betragen. Die Kassen sparten im Gegenzug etwa 18 Millionen Euro Arzneimittelkosten und etwa 37 Millionen Euro an Behandlungskosten. Hinzuzurechnen seien indirekte Einsparungen etwa im Zusammenhang mit Ausfalltagen von etwa 17 Millionen Euro.

Patienten seien bereit, Kosten aus eigener Tasche zu übernehmen, wenn sie dafür einen niederschwelligen Zugang bekämen, also nicht in der Praxis warten, sondern frühzeitig mit der Therapie beginnen könnten, so Ullrich. Die starke Individualisierung müsse zukünftig in der Arzneimittelversorgung berücksichtigt werden. „Am Ende des Tages geht es um Menschen und Beschwerden“, sagt Ullrich.

Aktuell entfallen laut Ullrich 50 Prozent der in den Apotheken abgegebenen Packungen auf den Bereich der Selbstmedikation. Die Apotheke vor Ort werde durch Switches weiter an Bedeutung gewinnen: Zum einen weil die Verfügbarkeit eine wichtige Rolle spiele. Zum anderen weil nur bei der Beratung vor Ort Chancen und Risiken der Selbstmedikation erkannt werden könnten.

Deutschland und Schweden liegen an der Spitze in Bezug auf verfügbare Wirkstoffe im Rahmen der Selbstmedikation. Die Bilanz der vergangenen 40 Jahre ist positiv. Ende 2016 wurden Mometason und Fluticason aus der Verschreibungspflicht entlassen. Die Kombination Aciclovir und Hydrocortion sowie Ibuprofen als Pflaster switchten 2017. Weitere Wirkstoffe könnten folgen. Professor Dr. Niels Eckstein von der Hochschule Kaiserslautern mahnte jedoch: „Kein Switch ohne Apotheker!“

Bei 85 Prozent der Apotheker treffen laut BAH-Umfrage Änderungen von der Verschreibungs- zur Apothekenpflicht auf Zustimmung. Auch die Bevölkerung ist aufgeschlossen. Ein Favorit von Heilberuflern und Verbrauchern ist ein Switch in der Ophthalmologie. So wünsche man sich beispielsweise für Gentamicin zur Behandlung einer Konjunktivitis einen OTC-Switch. Und das, obwohl Apotheker einen finanziellen Nachteil hätten, der jedoch mit Kundenbindung und Kompetenzverschiebung aufgewogen werden könne.

Interessant wäre ein Switch auch für die Industrie. Voraussetzung sei aber eine Exklusivität von drei Jahren, bestätigt auch die neuseeländische Apothekerin und Expertin Dr. Natalie Gauld. Denn nur dann sei dies auch wirtschaftlich. Das Problem in Deutschland: Alle Switches sind wirkstoffbezogen, so können andere Hersteller schnell nachziehen. In Ausnahmefällen ist eine Exklusivität von einem Jahr möglich, aber der Vorsprung sei zu gering. Verbesserte Rahmenbedingungen wie einen konkreten Zeitplan, mehr Beteiligungsrechte für Unternehmen und einen verbesserten Unterlagenschutz fordert auch Dr. Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim BAH. Außerdem regt er die Prüfung eines produktbezogenen Switches an.

Ein derartiger Switch wie Gentamicin als OTC könne die Bedeutung der Apotheke vor Ort stärken und ein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zur Versandapotheke sein – beispielsweise wenn die Abgabe an bestimmte Anforderungen geknüpft sei, die nur vor Ort zu leisten sei.

Für Thomas Müller, seit etwa drei Monaten Leiter der Abteilung I, Arzneimittel, Medizinprodukte und Biotechnologie im Bundesgesundheitsministerium (BMG), sollte ein Switch nicht auf Grundlage der Ergebnisse einer Marktforschung oder ökonomischen Bewertung getroffen werden. Er verweist auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen: Diese bedeute Telemedizin und E-Rezept, die Hürde zu einer niederschwelligen Versorgung könne sich – visionär gedacht – ändern. Außerdem solle man nicht mit einer Datenkanone auf Bagatellerkrankungen schießen, es gebe wichtigere Themen. Ein Switch müsse evidenzbasiert entschieden werden, so May. Daten vor und nach dem Switch seien nötig.

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