Wissenschaftler: Engpass bedeutet nicht Versorgungslücke Laura Schulz, 11.10.2024 17:29 Uhr
In den vergangenen Wochen gab es medial wieder vermehrt Berichte zu Engpässen bei Arzneimitteln und steriler Kochsalzlösung. Zu beachten sei dabei, dass nicht jeder Engpass eine Versorgungslücke bedeute, erklärt Professor Dr. Ulrike Holzgrabe, emeritierte Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. „Wenn bestimmte Blutdruckmittel mal schwer zu bekommen sind, ist das kein Versorgungsproblem.“ Es sei leicht möglich, auf andere Arzneimittel auszuweichen.
Eine Versorgungslücke gebe es erst dann, wenn kein Austausch möglich sei. „Hochproblematisch sind zum Beispiel Engpässe bei Antibiotika“, erklärt Holzgrabe. Ein Umstieg auf ein anderes Antibiotikum sei immer nur die zweitbeste Therapie. Ebenfalls nur schwer zu ersetzen seien Salbutamol zur Behandlung von Asthma oder Atomoxetin gegen ADHS. „Beide Arzneien waren zuletzt von Engpässen betroffen.“
Knapp 500 Medikamente betroffen
Laut der Lieferengpass-Datenbanken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) fehlen – Stand 10. Oktober – knapp 500 Arzneimittel. Als Engpass definiert das BfArM eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer üblichen Auslieferung oder eine deutlich erhöhte Nachfrage, die das Angebot übersteigt. Schuld an den Lieferengpässen seien laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) alte „Ramschverträge“, die mitunter noch gültig sind.
Damit habe sich die Zahl der Meldungen seit dem vergangenen Jahr kaum verändert, sagt Professor Dr. David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse von der Hochschule Worms: Im Juni 2023 seien es rund 480 Engpässe gewesen. Positiv zu vermerken sei, dass der stetige Anstieg der Lieferengpässe seit 2017 aktuell gebremst scheint. Auch Francas betonte, dass nicht jeder Engpass für Patienten gleichermaßen bedeutsam sei.
Gesetz brachte bisher kaum Verbesserung
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im vergangenen Jahr das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) mit dem Anspruch auf den Weg gebracht, Engpässe systematisch zu bekämpfen und die Versorgungssicherheit zu verbessern.
Dass sich danach rasch etwas ändert, sei von vornherein nicht zu erwarten gewesen, weiß Holzgrabe. „Grundsätzlich sind die Probleme von Lieferengpässen bekannt und ausreichend erforscht: In Deutschland haben wir mit Rabatt- und Festbeträgen die Preise so weit gedrückt, dass für viele Hersteller der deutsche Markt schlichtweg nicht attraktiv ist.“
Bei vielen für die Breitenversorgung wichtigen Medikamenten sei die Preisschraube zu weit gedreht worden, ist auch Francas überzeugt. „Der Zusammenhang zwischen niedrigem Preisniveau und schlechterer Arzneimittelverfügbarkeit ist mittlerweile auch empirisch belegt.“
Zudem entstehen laut Holzgrabe immer mehr Monopole, bei denen ein Arzneistoff nur noch von wenigen Herstellern produziert werde. „Wenn dann ein Hersteller aus welchen Gründen auch immer ausfällt, und das können schlichtweg auch Naturkatastrophen nahe dem Werk sein, haben wir schon ein Problem.“
Zu strenge Regulierung?
Eine Ursache für wenig Produktion hierzulande seien sehr strikte – und damit abschreckend wirkende – Richtlinien für Hersteller. „In Deutschland dürfen Sie als Hersteller zum Beispiel in einem Werk nur ein einziges Antibiotikum herstellen, nicht mehrere. Das ist in China anders.“ Allerdings seien bei solchen aus China kommenden Arzneistoffen auch Verunreinigungen bei Antibiotika zu sehen.
„Aber ich bin mir sicher, es gibt einen Mittelweg“, ist die Professorin im Ruhestand überzeugt. Es sei jedenfalls sehr wichtig, von der Abhängigkeit von Produzenten in Asien wegzukommen. „Das bisherige System ist sehr festgefahren. Die EU hat aber einen ersten Vorstoß unternommen und Arzneien ermittelt, die idealerweise auf jeden Fall in Europa produziert werden sollten.“
Nicht gleich mit dem Gießkannenprinzip zu arbeiten sei wichtig, betont Francas. Denn „eine unbequeme Wahrheit“ sei auch, dass entsprechende Maßnahmen mit deutlichen Kosten verbunden sind.
Import gegen Kochsalzlösungs-Engpass
Die aktuellen Lieferengpässe bei Kochsalzlösung will Lauterbach durch Importe überbrücken. Er werde übergangsweise die Voraussetzungen für den Import von Kochsalzlösungen als Arzneimittel schaffen, teilt ein Sprecher mit.
„Ich finde es kurios, dass das Thema jetzt hochkocht, denn wir konnten schon im Frühjahr sehen, dass es zum Beispiel bei den Kochsalzlösungen Probleme geben könnte“, erläutert Holzgrabe. Braun und Fresenius, die beiden entscheidenden Hersteller, hätten damals schon Schwierigkeiten gemeldet. „Kochsalzlösungen sind für Operationen oder zur Herstellung von Medikamenten unersetzlich.“ In diesem Fall sei derzeit tatsächlich von einem Versorgungsengpass zu sprechen.
Die Ursachen sind wohl vielschichtig, wie Francas erklärte. Es habe Schäden an einem Werk in den USA durch den Hurrikan Helene gegeben, und davor schon Engpässe bei Herstellern wegen Problemen mit Glasflaschen. Wegen der globalen Vernetzung gebe es dann rasch weltweite Auswirkungen.