Nach langem Zögern der Behörden ist in der EU erstmals eine Alzheimer-Therapie zugelassen. Helfen kann sie nur einem kleinem Teil der Patienten. Und: Sie ist aufwendig und riskant.
Allein in Deutschland sind etwa eine Million Menschen von Alzheimer betroffen. Nun hat die EU-Kommission erstmals eine Alzheimer-Therapie zugelassen, die auf zugrundeliegende Krankheitsprozesse abzielt. Schon im November hatte die europäische Arzneimittel-Behörde EMA die Zulassung des Antikörpers Lecanemab empfohlen. Die Zulassung gilt nur zur Behandlung von leichter kognitiver Beeinträchtigung (Gedächtnis- und Denkstörungen) im frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit.
Bisherige Alzheimer-Therapien behandeln nur Symptome der Krankheit, nicht ursächliche Prozesse im Gehirn. Das ist bei Lecanemab anders: Der Antikörper richtet sich gegen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn und soll dadurch den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Um Heilung oder Verbesserung geht es allerdings auch bei diesem Wirkstoff nicht, ein solches Mittel ist weiterhin nicht in Sicht.
Hauptmaßstab für die Wirksamkeit war die Veränderung der kognitiven und funktionellen Symptome nach 18 Monaten, die anhand einer Demenzbewertungsskala gemessen wurde. Die Skala reicht von 0 bis 18, wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen. Mit Lecanemab behandelte Patienten wiesen nach 18 Monaten im Mittel einen etwas geringeren Anstieg des Wertes auf (1,22 gegenüber 1,75). Das deute auf einen langsameren kognitiven Abbau hin, teilte die EMA mit.
Haben die Amyloid-Plaques schon irreversible Schäden im Gehirn angerichtet, nützt ihre Entfernung nichts mehr. Als frühe Alzheimer-Phase sind Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) zufolge die ersten drei Jahre zu werten. Das betreffe in Deutschland aktuell vermutlich mindestens 250.000 Menschen. In dieser Frühphase kommt ein Erkrankter noch allein klar, merkt aber zunehmend, dass sein Gedächtnis nachlässt.
Bei der EMA-Empfehlung gibt es allerdings noch eine weitere Einschränkung: Das Mittel sollen nur jene Alzheimer-Patienten bekommen, die lediglich eine oder keine Kopie von ApoE4 haben – einer Variante des Gens für das Protein Apolipoprotein E. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Nebenwirkungen – Schwellungen und Blutungen im Gehirn – geringer als bei Menschen mit zwei ApoE4-Kopien.
Menschen mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie machten in Deutschland etwa 80 Prozent der Alzheimer-Patienten aus, erklärte Gabor Petzold, Direktor der Klinischen Forschung am DZNE. Hinzu kommen weitere einschränkende Voraussetzungen. Insgesamt kommt Experten zufolge nur ein kleiner Bruchteil der Alzheimer-Erkrankten für die neue Therapie infrage.
Nein. Zunächst stünden noch einige Schritte bis zu einem Einsatz in Deutschland an, sagte Petzold: So seien die Hersteller zum Beispiel verpflichtet, ausführliche Handreichungen und Schulungen unter anderem für Ärzte auszuarbeiten und ein Beobachtungsregister anzulegen. Bei Patienten müsse Alzheimer erst durch Biomarker-Tests nachgewiesen sein, gefolgt von einem genetischen Test auf ApoE4. Infrage komme die Therapie ohnehin nur für Menschen in einem sehr frühen Stadium der Erkrankung.
In den nächsten Tagen sei mit sehr vielen Anfragen von Betroffenen und Angehörigen bei Hausärzten, Alzheimer-Zentren und Gedächtnissprechstunden zu rechnen, sagte Petzold. Levin befürchtet, eine deutliche Zunahme der Patientenzahlen, wenn es aufgrund der Behandlungsmöglichkeiten zu vermehrtem Wunsch nach diagnostischer Einordnung kommen sollte, dürfte mit den aktuellen Strukturen schwer zu bewältigen sein.
Der Neurologe Özgür Onur von der Uniklinik Köln geht davon aus, dass er nur verhältnismäßig wenig Erkrankte pro Jahr mit der neuen Therapie behandeln kann, da die häufigen Gaben eine große Herausforderung darstellen. „Ich gehe bei uns in Köln von um die 100 Patienten aus, die wir pro Jahr behandeln können. Und wir sind ein großes Zentrum.“
Im Juli hatte die EU-Arzneimittelbehörde noch entschieden, das Risiko schwerer Nebenwirkungen des Antikörpers sei höher zu bewerten als die erwartete positive Wirkung. Das Unternehmen Eisai hatte daraufhin eine zweite Prüfung beantragt. Dabei kam der Humanarzneimittelausschuss (CHMP) der EMA im Herbst zu dem Schluss, dass in jener Population, die bei der erneuten Prüfung untersucht wurde, der Nutzen von Lecanemab bei der Verlangsamung des Fortschreitens der Symptome größer sei als die Risiken. Bei der ersten Prüfung waren keine Untergruppenanalysen berücksichtigt worden, sondern alle Patienten.
Bei den mit Lecanemab behandelten Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie traten der EMA zufolge bei 8,9 Prozent Ödeme im Gehirn auf, im Mittel aller Patienten aber bei 12,6 Prozent. Mikroblutungen gab es bei 12,9 Prozent der Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, verglichen mit 16,9 Prozent der breiteren Population. Bei den Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, die mit Placebo (einer Scheinbehandlung) behandelt wurden, lagen die Werte für Schwellungen laut EMA bei 1,3 Prozent und für Blutungen bei 6,8 Prozent.
Die erfassten Schwellungen und Mikroblutungen im Gehirn blieben überwiegend ohne Symptome und wurden meist durch bildgebende Verfahren wie Magnetresonanztomographie (MRT) bemerkt. Insbesondere bei wiederholtem Auftreten drohen jedoch eine verminderte Gehirnleistung oder Koordinationsschwierigkeiten. Mikroblutungen gelten zudem als Risikofaktor für größere, potenziell lebensbedrohliche Hirnblutungen.
Die EMA betonte darum im Herbst, dass es zwingend Maßnahmen zur Risikominimierung geben müsse. Vor Beginn der Behandlung und vor der 5., 7. und 14. Lecanemab-Dosis müssten bei Patienten demnach MRT-Scans durchgeführt werden, zusätzliche Scans bei Warnzeichen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwindel. Auch die Behandlung selbst ist aufwendig: Lecanemab wird als intravenöse Infusion alle zwei Wochen verabreicht.
Nein. Der Antikörper Aducanumab, entwickelt vom US-Unternehmen Biogen, wurde von der EMA Ende 2021 nicht zur Zulassung empfohlen: Der vermeintliche klinische Effekt des Medikaments sei fraglich. Bei einem Antrag des US-Konzerns Eli Lilly hatte die EMA auch den Wirkstoff Donanemab im März wegen Risiken nicht empfohlen.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte Aducanumab 2021 zugelassen, Biogen stoppte die Produktion Anfang des Jahres allerdings wieder. Lecanemab kam in den USA Anfang 2023 auf den Markt, Donanemab wurde dort im vorigen Juli zugelassen. Alle drei Antikörper haben einen ähnlichen Wirkmechanismus.
Im Fachjournal „The BMJ“ hatten Experten voriges Jahr die FDA-Entscheidungen kritisiert. Die Medikamente zeigten nur eine unmerkliche Verlangsamung der Demenz, jedoch gravierende Nebenwirkungen, den Tod eingeschlossen, hieß es. Fragwürdig seien auch finanzielle Verbindungen von Mitgliedern des FDA-Beratungsausschusses zu Pharma-Konzernen.
Kritik gab es in „The BMJ“ auch an Aussagen der Hersteller, das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit werde deutlich verlangsamt – im Vergleich zu einer Placebotherapie je nach Teilgruppe um bis zu 35 Prozent. „Das ist eine irreführende Aussage“, wurde der Neurologe Alberto Espay von der Universität von Cincinnati zu den Donanemab-Daten zitiert. „Das ist ein relativer Unterschied, der einen sehr kleinen absoluten Unterschied in eine Zahl verwandelt, die beeindruckend erscheint.“
Fraglich ist, wie alltagsrelevant die messbare leichte Verzögerung des Krankheitsverlaufs überhaupt ist. „Sobald das Vollbild einer Alzheimer-Erkrankung vorliegt, sind die statistisch beschriebenen Effekte für den Patienten und sein Umfeld zumeist nicht mehr wahrnehmbar“, sagte Walter Schulz-Schaeffer vom Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg. „Dem müssen die Nebenwirkungen des Medikaments entgegengesetzt werden.“