Allein in Deutschland leben eine Viertelmillion Menschen mit der aktuell noch unheilbaren Krankheit Multiple Sklerose. Europaweit sind es 700.000. „Miteinander Stark!“ lautet das Motto des diesjährigen Welt-MS-Tages. Die Botschaft der bundesweiten Aktionen lautet: „Allein zu Haus? Wir bleiben in Verbindung. Die DMSG hilft.“ Gerade in Zeiten von Corona sei es wichtig, die Patientenversorgung weiterhin sicher zu stellen, betont die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft. Auch die Apotheke kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie Therapien erklärt und Wege im Umgang mit der Krankheit aufzeigt.
Die Multiple Sklerose ist nach der Epilepsie die zweithäufigste neurologische Erkrankung junger Erwachsener. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei 30 Jahren. Frauen erkranken fast doppelt so häufig wie Männer. Die entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist aktuell nicht heilbar. Spezielle Medikamente – darunter viele monoklonale Antikörper, Ester der Fumarsäure und Zytostatika – können das Voranschreiten nur verlangsamen.
Vorhersagen zu Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg der Multiplen Sklerose ist von Patient zu Patient stark unterschiedlich. Allgemeingültige Aussagen können kaum gegeben werden. Die multiple Sklerose ist eine autoimmune, chronisch-entzündliche neurologische Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Entgegen der landläufigen Meinung führt die Erkrankung nicht zwangsläufig zu schweren Behinderungen – ein Leben im Rollstuhl ist nicht zwangsläufig die Konsequenz einer langjährigen Erkrankung. Auch, wenn es bei der Erkrankung zu Schädigung der Markscheiden kommt, so können Patienten durch die aktuell zugelassenen Medikamente lange Zeit mobil und unabhängig bleiben.
So sind etwa die Hälfte aller Patienten nach 15 Jahren nach Erkrankungsbeginn noch gehfähig. Weniger als 10 Prozent der Erkrankten sterben an direkten Folgen der Erkrankung oder eventuell auftretenden Komplikationen. Eine generelle Symptomatik liegt nicht vor. Sie sind davon abhängig, welche Region des zentralen Nervensystems von der Entzündung betroffen ist. Auch die Stärke der Entzündung spielt eine wichtige Rolle. Patienten profitieren dauerhaft von einer möglichst frühzeitigen Behandlung. Eventuelle Spätfolgen der Krankheit können so durchaus minimiert werden.
Zur Behandlung der Multiplen Sklerose stehen zahlreiche Wirkstoffe zu Verfügung. Die Auswahl eines geeigneten Medikamentes hängt von den betroffenen ZNS-Arealen beim Patienten ab. Je nachdem, wie die Symptomatik und der Allgemeinzustand des Patienten ist können folgene Wirkstoffe für eine Therapie infrage kommen: Interferon-beta-Präparate, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimetyhlfumarat, Azathioprin, Immunglobuline, Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab, Daclizumab, Cladribin, Mitoxantron und Cyclophosphamid.
Generell fußt die Therapie der Multiplen Sklerose auf drei Säulen: Die Schubtherapie im Akutfall, die verlaufsmodifizierende Therapie bei aktivem Krankheitsverlauf und die symptomatische Behandlung. Bei einem akuten Schub erhält der Patient zumeist bis zu fünf Tage lang hochdosierte Kortisonpräparate als intravenöse Infusion. Die Wirkstoffe dämmen die Entzündungsreaktion schnell ein, die Symptome gehen zurück. Bei einem akuten Schub beschreiben Betroffene Sensibilitätsstörungen (Brennen und Kribbeln in den Extremitäten), Sehstörungen und stärkere motorische Störungen. Reicht die einmalige Therapiedauer nicht aus, so kann der Zyklus wiederholt werden. Bei einigen Patienten schlagen die Kortisone auch bei wiederholtem Versuch nicht an, sodass eine Plasmapherese (umgangssprachlich Blutwäsche) in Betracht gezogen werden kann.
Bei der verlaufsmodifizierenden Behandlung werden entweder Immunmodulatoren oder Immunsuppressiva eingesetzt. Als First-Line Therapie werden milde bis moderate Krankheitsverläufe behandelt. Als Wirkstoffe werden beispielsweise Interferon-beta-Präparate eingesetzt. Sie sollen das fehlgeleitete Immunsystem korrigieren. Sie können das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen, sowie die Frequenz der Schübe vermindern. Interferone gehören zur Familie der Zytokine und wirken antiviral, antiproliferativ und immunmodulierend. Als Alternative zu den beta-Interferonen steht der künstlich aus Aminosäuren hergestellte Wirkstoff Glatirameracetat (Copaxone, Teva; Clift, Mylan) zu Verfügung. Der Arzneistoff reduziert die Anzahl der Krankheitsschübe um etwa 30 Prozent jährlich.
Die verlaufsmodifizierende Therapie des aktiven Krankheitsverlaufs gilt als Second-line-Therapie und kommt immer da zum Einsatz wo Patienten nicht auf die Basistherapie ansprechen. Innerhalb dieser „Optimierungstherapue“ kommen monoklonale Antikörper zum Einsatz. Natalizumab (Tysabri, Biogen) ist ein möglicher Wirkstoff, der als selektiver Hemmstoff für Adhäsionsmoleküle, die sich an der Oberfläche von weißen Blutzellen befinden, das Einwandern von Leukozyten in Entzündungsherde. Natalizumab wird auch als Integrin α4-Inhibitor bezeichnet und gehört zu den IgG4-Antikörpern. Viele der neuen Arzneistoffe können zu schweren Nebenwirkungen führen, so ist das Hauptrisiko der Natalizumab-Therapie die progressive multifokale Leukenzephalopathie, eine Erkrankung des Zentralnervensystems, die durch ein Virus ausgelöst wird und potenziell lebensgefährlich ist. Drei Faktoren scheinen das Risiko dieser Erkankung zu erhöhen: Eine Behandlungsdauer von mehr als 24 Monaten, eine vorherige immunsuppressive Therapie, sowie der Nachweis von Antikörpern gegen das Virus, das für die Erkrankung ursächlich ist.
Bei einigen monoklonalen Antikörpern werden die Indikationen nach der Zulassung aufgrund von auftretenden unerwünschten Arzneimittelereignissen geändert. So auch bei dem seit 2013 zugelassenen Wirkstoff Alemtuzumab (Lemtrada, Sanofi Genzyme). Der Arzneistoff reguliert das Immunsystem, indem es sich gegen bestimmte weiße Blutkörperchen, die B- und T-Lymphozyten, richtet. Seit Ende 2019 empfiehlt die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) Alemtuzumab nur noch bei Erwachsenen mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose, sowie bei einer rasch fortschreitenden schubförmigen Verlaufsform. Es wurden zudem neue Kontraindikationen aufgenommen: Patienten, die an bestimmten Herz-Kreislauf- oder Blutungsstörungen leiden, sollen Alemtuzumab nicht mehr anwenden. Darüber hinaus sollte die Behandlung im Krankenhaus erfolgen.
Bei der symptomatischen Therapie sollen Folgen wie Schmerzen durch eine verkrampfte Muskulatur oder Sprech- und Schluckstörungen behandelt werden. Auch die psychische Komponente ist nicht außer Acht zu lassen. Viele Patienten leiden unter Depressionen, da die Krankheit ihre Lebensqualität mindert. Körperliche Symptome können mit speziell ausgerichteter Physiotherapie behandelt werden. Um den Sprachverlust zu bremsen, können Betroffene einen Logopäden aufsuchen. Ergotherapeutische Maßnahmen können körperlich und psychisch helfen. Eine spezielle Kunsttherapie fördert nicht nur die Kreativität sondert auch die Feinmotorik.
Apotheken können einen wertvollen Beitrag bei der Betreuung von chronisch kranken Patienten darstellen. Ein Arztgespräch alleine reicht häufig nicht aus, sodass eine ergänzende Beratung in der Apotheke für die Betroffenen sehr hilfreich sein kann. Oftmals handelt es sich auch um Rückfragen zur Therapie. Daher ist es wichtig, dass Apotheker und PTA bei der Medikation auf dem neuesten Stand bleiben. Gerade im Bereich der monoklonalen Antikörper erfolgen in den letzten Jahren zahlreiche Neuzulassungen. Neben einem individuellen Medikationsmanagment können Apotheker und PTA auch Tipps für den Umgang mit der Erkrankung im Alltag geben. Die Apotheke kann auch als Vermittler zu weiteren Institutionen und Vereinen sein. In vielen Städten gibt es MS-Initiativen – hier tauschen sich MS-Patienten gegenseitig aus oder werden aktiv.
Die Beratungsqulität beim Thema Multiple Sklerose soll besser werden, das hat sich die Apothekerkammer Oberösterreich zum Ziel gesetzt und nutzt dafür den Welt-MS-Tag. In Österreich leben schätzungsweise 13.500 Menschen mit der noch unheilbaren chronischen Erkrankung. „Apotheken sind für MS-Patienten sowie deren Angehörige wichtige Ansprechstellen. Es ist ein Gebot der Stunde, die Kompetenz der Apothekerinnen und Apotheker besser zu nützen“, bekräftigen der Präsident der Apothekerkammer Oberösterreich Thomas W. Veitschegger und Vizepräsidentin Monika Aichberger.
Durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Früherkennung, raschen Diagnose und Therapieentscheidung, sowie beim Management von Neben- bzw. Wechselwirkungen für Menschen mit Multipler Sklerose wollen sie die Betreuung der MS-Patienten verbessern. Oberösterreichs Apothekerkammer ist davon überzeugt, dass Menschen mit dieser Erkrankung von der Einbindung der Apotheken in die MS-Versorgung profitieren. „MS-Patienten müssen in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden. Mit unserer neuen MS-Initiative wollen wir ein Informations- und Beratungsnetzwerk aufbauen, welches die Versorgung und Betreuung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose im extramuralen Bereich verstärkt“, so Veitschegger.
APOTHEKE ADHOC Debatte