In der DDR wurden massenhaft neue West-Arzneien an DDR-Patienten getestet. Die Aufträge füllten die klamme Staatskasse. Wissenschaftler haben das Kapitel deutscher Geschichte aufgearbeitet.
Westliche Pharmahersteller haben in der DDR in den 1980er Jahren Medikamente in großem Stil getestet – 320 solcher Studien sind nun nachgewiesen. Insgesamt habe es Hinweise auf bis zu 900 klinische Tests zwischen 1961 bis 1990 gegeben, heißt es im Abschlussbericht eines Forschungsprojekts unter Leitung des Berliner Medizinhistorikers, Professor Dr. Volker Hess, der am Dienstag vorgestellt wurde. Die überschuldete DDR habe ihr Gesundheitssystem dafür zur Verfügung gestellt, um an begehrte Devisen zu kommen.
Aufträge kamen demnach vor allem aus Westdeutschland, aber auch aus der Schweiz, Frankreich, den USA und Großbritannien. Gefunden wurden Aufträge von 75 Unternehmen aus 16 Ländern. Systematische Verstöße gegen damals geltende Regeln seien bei den Tests nicht festgestellt worden, konstatiert der Bericht. Die Standards hätten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nicht den heutigen entsprochen. Ob DDR-Patienten stets informiert wurden, habe sich nicht vollständig klären lassen. Es müsse aber davon ausgegangen werden, dass in Einzelfällen Betroffene nicht aufgeklärt wurden.
Die Verfasser der Studie widersprechen Spekulationen, wonach die Studien in der DDR billig zu haben waren. Der entscheidende Vorteil für Westfirmen sei nicht das geringere Honorar gewesen, sondern der Zeit- und Effizienzgewinn. Das diktatorische DDR-Regime habe für eine zügige Durchführung der Studien gesorgt und öffentliche Kritik ausgeschaltet. Jedoch hätten westliche Pharmafirmen auch die schlechtere Versorgung mit Medikamenten im Osten ausgenutzt.
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) habe ein großes Interesse an den klinischen Studien gehabt und sie intensiv beobachtet, heißt es. Das gehe aus den überlieferten Akten sowie deren Umfang hervor. In Ost-Berlin sei schon in den 1960er Jahren ein „Beratungsbüro für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (Import)“ installiert worden, deren Leiter IM (Inoffizielle Mitarbeiter) der Stasi waren. Besucherlisten zeigten, welche Firmenvertreter Kontakte suchten. Das zentrale Organisationsbüro handelte die Verträge mit den West-Unternehmen aus.
Hess vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Berliner Charité hat mit seinem Team Stasi- und Patientenakten sowie Berichte von Arzneimittelherstellern gelesen, Archive durchforstet und Zeitzeugen befragt. Das groß angelegte Projekt wurde vom Bund, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, von Ärztekammern und Verbänden finanziert. Es gilt als die erste umfassende Veröffentlichung zur klinischen Auftragsforschung westlicher Firmen in der DDR.
Als im Sommer 2014 erste Zwischenergebnisse präsentiert wurden, hatte Hess betont, er halte es für völlig überzogen, von „Menschenversuchen“ zu reden. Im Abschlussbericht heißt nun ein Kapitel: „Der Skandal, der keiner war“. Es habe keinen Hinweis gegeben, dass klinische Studien in der DDR nach anderen Standards als zeitgleiche Tests im Westen erstellt wurden. Es sei nach gleichem Maß geprüft worden.
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