Der „unbedarfte“ BfArM-Patient Patrick Hollstein, 13.05.2015 10:03 Uhr
Rechtsstreitigkeiten mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) landen in der Regel vor dem Verwaltungsgericht Köln (VG). Dort ist eine Kammer auf Fragen rund um das Thema Arzneimittelzulassung spezialisiert. Lange waren die Richter auf einer Linie, wenn es um die Auslegung von Sicherheitsvorschriften ging. Doch das aktuelle Urteil zur Packungsgröße von Voltaren dolo ist eine Klatsche für die Behörde: Widersprüchliche Argumente und ein antiquiertes Weltbild, lauten die Gründe für die Entscheidung.
Voltaren dolo enthält 25 Milligramm Diclofenac. Der Wirkstoff ist in der Dosierung laut Arzneimittel-Verschreibungsverordnung (AMVV) zur Behandlung leichter bis mäßig starker Schmerzen und Fieber rezeptfrei, solange eine Tagesdosis von 25 bis maximal 75 Milligramm nicht überschritten wird und die Anwendung für maximal drei (Antipyrese) beziehungsweise vier (Analgesie) Tage vorgesehen ist.
Aus diesen Vorgaben hatte das BfArM eine Beschränkung der Packungsgröße auf zwölf Tabletten abgeleitet und dem Hersteller Novartis die Verlängerung der Zulassung verweigert. Einheiten mit 20 Stück seien nicht therapiegerecht, da diese Anzahl bei durchgehender Höchstdosierung eine Anwendung über sieben Tage ermögliche. Bei geringerer Dosierung werde der zulässige Zeitraum sogar um ein Vielfaches überschritten.
Mit Blick auf das kardiovaskuläre Risiko sei eine möglichst genaue Einhaltung der angegebenen Zeitfenster angezeigt; insofern sei beabsichtigt, bei allen Diclofenac-Präparaten die Packungsgröße zu begrenzen, so die Behörde. Die in der Literatur nur noch vereinzelt vertretene Auffassung, dass eine Einschränkung der Packungsgrößen nur in Ausnahmefällen zulässig sei, werde durch den Wortlaut der Vorschrift nach Arzneimittelgesetz (AMG) nicht gestützt und widerspreche der Arzneimittelsicherheit, so das BfArM. Ansonsten ließe sich jede beliebige Packungsgröße rechtfertigen.
Novartis warf dem BfArM vor, eine Kompetenz zu übernehmen, die eigentlich dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) im Rahmen der Regelung zur Verschreibungspflicht zustehe. Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit spreche jedenfalls nichts gegen eine Packungsgröße mit 20 Tabletten. Die Behörde habe im Jahr 2008 dieser Packungsgröße noch zugestimmt; seither habe sich die Erkenntnislage nicht geändert.
Das Präparat werde regelmäßig bei kurzfristigen, aber wiederkehrenden Schmerzen eingesetzt, so der Hersteller weiter. Die Vorhaltung einer kleinen Menge in der Hausapotheke sei daher erforderlich, um „im akuten Fall sofort ein Medikament zur Hand zu haben, ohne dies zuerst in der Apotheke erwerben zu müssen“. Dies sei insbesondere nachts oder an Wochenenden und Feiertagen schwierig. Außerdem hätten bei einer etwas größeren Packung mehrere Menschen in einem Haushalt die Möglichkeit, das Arzneimittel bei akuten Schmerzzuständen zu benutzen.
Das VG sah es genauso pragmatisch wie der Hersteller. Grundsätzlich sei von einem „verständigen, aufmerksamen und durchschnittlich informierten Verbraucher“ auszugehen. „Demgegenüber scheint für das BfArM immer noch das Leitbild eines ‘unbedarften’ und uninformierten Patienten maßgeblich zu sein, der durch kleinere Arzneimittelmengen an einer längeren Einnahme gehindert werden soll“, heißt es in der Urteilsbegründung.
Den Richtern zufolge ist eine verstärkte Information der Patienten über die Risiken besser geeignet, die Einsicht und damit das Verhalten des Verbrauchers zu beeinflussen, als eine einheitliche Packungsgröße. Letzere lasse sich nämlich leicht durch Einkäufe bei verschiedenen Apotheken oder in Internetapotheken kompensieren.
Außerdem sei zweifelhaft, dass die vom BfArM postulierte „Signalwirkung“ der einheitlichen kleineren Packungsgröße überhaupt wahrgenommen werde. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass die Patienten ihre Beschwerden kennen und bereits ärztlich untersuchen lassen haben. So gesehen sei ein kleiner Vorrat – der bei 20 Tabletten auch nicht für eine Dauermedikation reiche – für den Fall wiederkehrender Schmerzen zulässig und womöglich sogar erforderlich, um durch sofortige Einnahme der Entstehung eines „Schmerzgedächtnisses“ entgegenzuwirken. „Dass diese Gesundheitsinteressen eines Patienten gegenüber der Arzneimittelsicherheit (Verhinderung einer Überschreitung der Anwendungsdauer) zurücktreten müssen, ist nicht erkennbar“, heißt es im Urteil.
Gleichzeitig warfen die Richter der Behörde vor, ihre eigenen Aussagen nicht hinreichend belegt zu haben: Bei einer Sitzung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht im Jahr 2012 habe ein BfArM-Vertreter erklärt, die Vorgaben der Packungsbeilage und damit die Anwendungsdauer würden von den Patienten häufig nicht beachtet. Einer der Sachverständigen habe eingewandt, es gebe publizierte Daten, nach denen die durchschnittliche Anwendungsdauer von Analgetika in Deutschland etwa 2,2 Tage betrage und der Verbrauch in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten eher niedrig sei. „Dem ist das BfArM bisher nicht substantiiert entgegengetreten“, so das Urteil.
Ohnehin sei das Anwendungsgebiet „leichte bis mäßig starke Schmerzen“ sehr weit formuliert und lasse eine generelle Bestimmung der notwendigen oder üblichen Therapiedauer nicht zu, heißt es im Urteil weiter. Insbesondere sei vom Anwendungsgebiet auch eine Schmerzdauer von 7 oder 10 Tagen erfasst, für die eine Packung mit 12 Tabletten noch nicht einmal ausreichend wäre.
Im Übrigen sei trotz der nicht unerheblichen gastro-intestinalen und kardio-vaskulären Risiken selbst die Langzeitbehandlung unter ärztlicher Aufsicht anerkannt, so die Richter mit Verweis auf die vom BfArM freigegebenen Fachinformationen. Aus dem Sicherheitshinweis der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) lasse sich zwar eine Begrenzung der Therapiedauer auf „den kürzesten, zur Symptomkontrolle erforderlichen Zeitraum“, aber nicht auf eine Zeitdauer von vier Tagen ableiten.
Sicherheitsprobleme seien erst unter der Therapie über Monate oder sogar Jahre beobachtet worden. Bei einer Therapiedauer zwischen 5 und 20 Tagen sei das Nutzen/Risiko-Verhältnis noch positiv. „Diese Auffassung hat das BfArM selbst auch noch im Jahr 2010 vertreten“, so die Richter mit Verweis auf ein weiteres Sitzungsprotokoll des Sachverständigenausschusses. Im Übrigen erlauben sich die Richter die kritische Anmerkung, dass Verwaltungsvorgänge des BfArM „leider völlig ungeordnet“ waren.