Valsartan-Skandal: „Als guter Chemiker hätte man das wissen können“ Deniz Cicek-Görkem, 17.07.2018 14:22 Uhr
Bislang gibt es keine offiziellen Angaben zur Konzentration der potenziell kanzerogenen Substanz N-Nitrosodimethylamin (NDMA) in verunreinigten Valsartan-Tabletten. Wie und wann es aufgefallen ist, ist auch noch relativ unklar. In der Branche ist von einer „zufälligen“ Entdeckung die Rede. Professor Dr. Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP) zufolge sollte dieser „Zufall“ kritisch hinterfragt werden. Er fordert, dass die Verantwortlichen diesmal nicht ungeschoren davon kommen sollten. Damit meint er keinen anderen als die Profiteure der Billig-Arzneistoffe.
Sörgel gilt als einer der renommiertesten Dopingexperten Deutschlands und ist auch international als Koryphäe in diesem Bereich bekannt. Der Valsartan-Fall beschäftigt auch ihn. Er fragt sich prinzipiell, wie die Verunreinigung „zufällig“ entdeckt werden konnte. Denn bislang bleibt Genaueres dazu verborgen und die Behörden gehen bei ihren Mitteilungen nicht auf diese Thematik ein. Zudem stellt er sich die Frage: „Wie groß ist das Problem dann weltweit in zigtausenden von Generika mit hunderten von Wirkstoffen und tausenden von Nebenprodukten?“ Er bezieht sich dabei nicht nur auf Generikahersteller: „Auch die ,innovative Pharmaindustrie‘ lässt einen Teil ihrer älteren Arzneimittel bei Lohnherstellern produzieren.“
Die Verunreinigung mit NDMA im aktuellen Fall soll beim Lohnhersteller Zhejiang Huahai Pharmaceutical aufgrund einer neuartigen Synthesemethode aufgetreten sein. Nach Informationen von APOTHEKE ADHOC hat der chinesische Lieferant seine Produktion bereits 2012 umgestellt, möglicherweise um die Effizienz zu steigern und eine höhere Ausbeute zu erreichen. Als wahrscheinlichste Ursache gilt eine Modifikation bei der Herstellung des Tetrazol-Rings. Hier soll im konkreten Fall N,N-Dimethylformamid (DMF) als Lösungsmittel eingesetzt worden sein, das dann über Dimethylamin und in Gegenwart mit Salpetriger Säure zu NDMA weiterreagiert hat. „Wenn ein Syntheseweg verändert wird, in dem ein anderes Lösungsmittel eingesetzt wird, hätte man als guter Chemiker wissen können, dass eine andere Verunreinigung entstehen kann“, kommentiert Sörgel.
Sicherlich hätten die Pharmaunternehmen ein berechtigtes Interesse an einem Patent für ihre Synthese. „Die Offenlegung der Synthesewege wäre allerdings sehr sinnvoll, denn bislang sind die vollständigen Methoden im Detail nur in der Patentliteratur gelistet. Keiner hat Zeit, sich mit Hunderten von Patentschriften intensiv auseinanderzusetzen, zum anderen werden diese wenn möglich geheim gehalten.“ Er würde es begrüßen, wenn die Synthesewege online verfügbar gemacht und beispielsweise über die EMA veröffentlicht werden könnten. Dadurch könnte auch anderen Wissenschaftlern ein leichterer Zugang zu diesem Wissen ermöglicht und die Forschung vorangetrieben werden. „Der Forschungsstand könnte so klarer definiert werden.“ Für ihn steht fest: „Der Valsartan-Fall ist ein Weckruf für die Analytiker an den Lehrstühlen für Pharmazeutische Chemie.“
Zuletzt teilte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit, dass es wahrscheinlich sei, dass in den zurückgerufenen Präparaten NDMA enthalten sein könnte. „Gesicherte Erkenntnisse darüber liegen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor, da die hierfür erforderliche Analytik komplex ist“, schrieb die Behörde vergangene Woche. Warum komplex? „Die Verunreinigung kann mit Massenspektrometrie in Kombination mit NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden“, erklärt der Experte. Und auch auf die Sensitivität des Test käme es an: „Je empfindlicher die Analytik, desto mehr Stoffe lassen sich detektieren.“
Als Dopingexperte gibt er zu wissen, dass es leichter sei, eine Substanz in einer Tablette zu detektieren als beispielsweise in der Bioanalytik, in der mit „tausenden verschiedenen Stoffen“ hantiert werde. „Denn Tabletten haben eine begrenzte Anzahl an Inhaltsstoffen, was die Detektion einfacher machen sollte“. Genaueres dürfte sich den nächsten Tage abzeichnen: „Wenn die Substanz bekannt ist, gibt es keinen Grund, dass die Analyse so lange dauert. Die wesentlichen Befunde sollten in ein bis zwei Wochen vorgestellt werden können. Dadurch aber, dass Behörden und die Politik in den Fall eingebunden sind, können auch mal mehrere Wochen vergehen, bis es Ergebnisse gibt“, sagt Sörgel.
Das Ausmaß ist derzeit unbekannt, doch der Experte geht davon aus, dass sich die Konzentration der Verunreinigung im „hoffentlich niedrigen“ ppm-Bereich bewegt. Anderes könnte zu einem Desaster führen: „Denn was sagen wir denn den Patienten, wenn die erst mal erfahren, dass sie jahrelang diese Tabletten genommen haben, die jetzt ,zufällig‘ als mit einem Stoff verunreinigt erkannt wurden, der potenziell krebserregend ist? Das ruft geradezu nach einer Fall-Kontrollstudie“.
Er verlangt, dass diese Untersuchungen von denen finanziert werden sollten, die die Nutznießer der Billig-Arzneistoffe sind. „Das ist nicht nur die Generikaindustrie, sondern auch Krankenkassen und der Staat.“ Seiner Ansicht nach hat der Patient als Zuzahler das Recht auf Aufklärung durch eine Studie. Das sei wissenschaftlich machbar, denn Valsartan wurde über Jahre eingenommen und damit sei die zugeführte Menge ersichtlich. Anders als bei Acrylamid in Pommes frites, wo die Leute über Jahre zurück Angaben zum Konsum machen, gegebenenfalls schätzen mussten.
Eine Verunreinigung ist definiert als eine Komponente in einem Wirkstoff oder einem Fertigarzneimittel, die weder als Hilfsstoff noch als Wirkstoff fungiert. Der Oberbegriff wird in organische, mikroorganische, anorganische und Restlösungsmittel unterteilt. Das Auftreten von Verunreinigungen in Arzneistoffen hat in erster Linie nicht mit mangelnder Hygiene zu tun, sondern geht vielmehr auf die molekulare Ebene zurück, wo es zu Interaktionen einzelner Stoffe kommt, die sich nicht verhindern lassen und dem Syntheseweg geschuldet sind. Wichtig ist, bestimmte gesetzlich geforderte Grenzwerte einzuhalten, um der Unbedenklichkeit des Arzneimittels gerecht zu werden.
Verunreinigungen sind daher zum einen aus Sicherheitsgründen relevant, zum anderen kommt den ICH-Richtlinien im Hinblick auf die Analyse dieser Substanzen eine besondere Bedeutung zu. „Die Behörden legen einen allgemeinen Grenzwert von < 0,1 Prozent für eine Verunreinigung fest. Bei einer kanzerogenen Substanz ist dieser Wert wiederum fraglich. Man muss von Fall zu Fall entscheiden, wie man das beispielsweise bei den Lebensmitteln für das potenziell krebserregende Acrylamid gemacht hat“, so Sörgel.