Leiden Patient:innen unter starken Schmerzen – ob chronisch oder akut –, gehört das synthetische Opioid Tramadol zu den Mitteln der Wahl. Doch obwohl der Wirkstoff mit einem hohen Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzial verbunden ist, unterliegt er nicht dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Die Hintergründe deckt eine Spiegel-Recherche auf und kritisiert dabei vor allem das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Der Verdacht: Pharmainteressen könnten vor den Patientenschutz gestellt werden.
„Gib mir Tilidin, ja ich könnte was gebrauchen“ – Opioide wie Tilidin und Tramadol werden unter anderem in Songtexten von Rapper:innen gehypt. Kein Wunder, dass die Wirkstoffe häufig als „Einstiegsdrogen“ genutzt werden. Doch auch sie sind mit einem hohen Abhängigkeitspotenzial und schweren gesundheitlichen Folgen verbunden. „Tramadol ist der Donald Trump unter den Schmerzmitteln: gefährlich, irrational. Du wirst es bereuen“, zitiert der Spiegel einen kanadischen Toxikologen. Auch ein Tramadol-Abhängiger selbst berichtet: „Die Sucht ist sofort da.“
Dennoch ist der Anteil des missbräuchlichen Konsums laut Daten des Instituts für Therapieforschung bei Opioid-haltigen Schmerzmitteln wie Tramadol in den letzten zwölf Monaten um 52 Prozent gestiegen. Der Hauptgrund dafür liegt laut Spiegel in der mangelnden Zugangskontrolle durch die zuständigen Behörden. Denn sowohl Tilidin als auch Tramadol sind auf einem normalen Rezept in der Apotheke erhältlich und gelten nicht als Betäubungsmittel (BtM) – ein „fataler Fehler“, heißt es im Artikel.
Für das Projekt „World of Pain“ hat der Spiegel gemeinsam mit internationalen Medien zum globalen Geschäft mit dem Schmerz recherchiert und dabei auch die vermeintlichen Hintergründe für die Entscheidung gegen BtM-Pflicht aufgedeckt.
Während Tramadol in verschiedenen anderen Ländern wie den USA, Australien, Großbritannien und Frankreich als BtM gilt, ist dies hierzulande nicht der Fall. Denn obwohl eine mögliche Unterstellung unter die Betäubungsmittelpflicht bereits 2010 auf die Agenda des Sachverständigenausschusses für Betäubungsmittel kam, nachdem Berichte über zahlreiche gefälschte Rezepte vor allem in Berlin bekannt wurden, blieb dies ohne Erfolg.
Nachdem der Pharmakonzern Grünenthal, der den Wirkstoff in den 1960er Jahren entwickelte und für den Contergan-Skandal bekannt ist, dringend von restriktiven Maßnahmen abgeraten, auf die vermeintlich drastischen Folgen einer stärkeren Regulierung aufmerksam gemacht und ein angeblich geringes Missbrauchspotenzial durch Studiendaten nachgewiesen hatte, kamen sowohl der Sachverständigenausschuss als auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) zu dem Schluss, Tramadol nicht als BtM einzustufen.
Die Folge: Der Absatz an entsprechenden Präparaten stieg seit der Entscheidung deutlich an. Das Problem: An der Abstimmung waren neben Industrievertreter:innen auch ehemalige Mitarbeitende von Grünenthal beteiligt, so der Spiegel. Eine „körperliche Abhängigkeit tritt nur selten auf“, so die Begründung zur damaligen Entscheidung. Sowohl Betroffene als auch Expert:innen widersprechen jedoch. So muss unter anderem inzwischen in den Fach- und Gebrauchsinformationen entsprechender Arzneimittel EU-weit vor einem Sucht- und Missbrauchspotenzial gewarnt werden.
Bis heute suggeriere das BfArM laut Spiegel jedoch, dass sich die Versorgung von Schmerzpatient:innen durch eine Einstufung als BtM verschlechtern würde, und zwar womöglich auch in anderen Ländern. Dies bestätige auch die Antwort auf eine schriftliche Aufforderung einer Mutter, deren Sohn an einer Tramadol-Überdosis verstarb, mit der Aufforderung, Tramadol als BtM einzustufen. Demnach erfordere es laut dem BfArM stets Kompromisse, sowohl die Bevölkerung mit „wirksamen, sicheren und bezahlbaren Arzneimitteln“ zu versorgen, als auch „soweit als möglich vor Missbrauch und Abhängigkeit“ zu schützen, wie die Spiegel-Recherche zeigt.
Daher steht das BfArM in der Kritik, sein eigentliches Ziel, Arzneimittel sicherer zu machen und Menschen vor potenziellen Risiken zu schützen, bei Tramadol zugunsten der Interessen der Pharmaindustrie zurückzustellen. „Der Staat wirkt wenig durchsetzungsstark, wenn er auf international operierende Pharmakonzerne trifft“, so das Spiegel-Fazit.