Überdosierung von Codein

Tödlicher Hustensaft: Hersteller haftet für Beipackzettel Patrick Hollstein, 26.11.2024 14:26 Uhr

Eine Vierjährige verstarb infolge einer Überdosierung von codeinhaltigem Hustensaft – jetzt wird der Hersteller dafür in die Verantwortung gezogen. Foto: megaflopp/shutterstock.com
Berlin - 

In Österreich verstarb im Januar 2015 ein vierjähriges Mädchen, nachdem ihm eine Überdosis eines Codein-haltigen Hustensafts verabreicht worden war. Jetzt entschied der Oberste Gerichtshof (OGH), dass der Hersteller haftet – weil er keinen ausreichenden Hinweis in den Beipackzettel aufgenommen hatte.

In der Nacht vom 21. auf den 22. Januar 2015 verstarb das damals vierjährige Mädchen, nachdem ihm eine Überdosis des Hustensafts Codipertussin verabreicht worden waren. Das Mittel war damals noch für Kinder ab drei Jahren zugelassen; eine Vertreterin des Hausarztes hatte das Mittel zwei Tage zuvor verschrieben. Wann und vom wem das Hustenmittel über die verordnete Dosierung hinaus gegeben wurden, konnte laut Gericht im Nachhinein nicht mehr festgestellt werden. Zusätzlich erhielt das Kind auch noch Dihydrocodein.

Die Mutter hatte den Beipackzettel vor der Anwendung zwar nicht gelesen, allerdings die 20-jährige Halbschwester. Sie behauptete im Prozess, dass sie die Mutter informiert hätte, wenn in der Gebrauchsinformation ein Hinweis enthalten gewesen wäre, dass es zu einer tödlichen Wirkung bei Überdosierung kommen kann.

Daher klagte die Familie des verstorbenen Mädchens – Mutter, Zwillingsschwester sowie zwei Halbgeschwister – auf Schmerzensgeld und Therapiekosten, die Mutter zusätzlich auf Verdienstentfall, Begräbniskosten und Spesenersatz. Sie argumentierten, dass dem Hersteller Astellas sowie dem Lohnhersteller Haupt Pharma seit 2013 bekannt gewesen sei, dass die Verabreichung von Codipertussin an Kinder unter zwölf Jahren tödlich wirken könne. Trotzdem hätten sie es unterlassen, in der Gebrauchsinformation entsprechend darauf hinzuweisen.

Fehlanwendung als Ursache

Die beiden Pharmafirmen wehrten sich: Die Gebrauchsinformation habe dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprochen, ohnehin seien die Inhalte durch die Behörden vorgegeben gewesen. Ursächlich für den Tod sei im Übrigen eine nicht vorhersehbare Überdosierung trotz Vorliegen einer Lungenentzündung gewesen, die eine ausdrückliche Kontraindikation gewesen sei.

Schon in erster Instanz wurde zugunsten der Familie entschieden. Zwar wurde der Anspruch der Mutter wegen eines Mitverschuldens um ein Drittel gekürzt: Als allein obsorgeberechtigte Person habe sie es unterlassen, eine Verabreichung von Medikamenten an ihre erst vierjährige Tochter entsprechend den ärztlichen Vorgaben sicherzustellen.

Mängel in Gebrauchsanweisung

Doch im Grundsatz wurde eine Haftung der beiden Hersteller anerkannt: Die Gebrauchsinformation habe einen völlig unrichtigen Eindruck über die bereits bekannte Gefährlichkeit des Hustensaftes vermittelt und gerade nicht auf eine mögliche letale Wirkung hingewiesen, sondern die Nebenwirkungen sogar verharmlost.

Das Berufungsgericht sah die Sache ähnlich: Für unvorhersehbare oder geradezu absurde Gebrauchsarten hätten Hersteller zwar nicht einzustehen. Aber auch unterhalb der „Schwelle der Sozialüblichkeit“ müssten sie mit bestimmten Verbrauchergewohnheiten rechnen, solange es sich nicht bloß um einen theoretisch denkbaren, sondern um einen naheliegenden Abusus handle.

Da es sich nach der Gebrauchsinformation um ein Medikament gegen Reizhusten für Kinder ab drei Jahren gehandelt habe – mit einer „üblichen Dosis“ von zwei Mal täglich einem Dosierlöffel – sei ein gewisses Überschreiten, etwa durch Gabe von drei Löffeln im Tagesverlauf, keineswegs unvorhersehbar gewesen. Die Gefahr einer potenziell tödlichen Überdosierung habe sich aber gerade nicht aus der Gebrauchsinformation ergeben. Ebenso wenig hätten sich darin klare Hinweise gefunden, dass die toxische Wirkung durch die Kombination mit anderen Medikamenten verstärkt werden könne oder dass der Hustensaft nicht bei einer Lungenentzündung verabreicht werden dürfe.

Warnhinweise sind Pflicht

Der OGH wies die Revision der Pharmafirmen nun in letzter Instanz ab: Zwar sei die Gebrauchsinformation eine verpflichtend vorzulegende Zulassungsunterlage und damit auch Teil der arzneimittelrechtlichen Zulassung; allerdings seien weitere Angaben zulässig, „soweit sie mit der Verabreichung der Arzneispezialität in Zusammenhang stehen, für den Anwender oder Verbraucher wichtig sind und den Angaben der Fachinformation nicht widersprechen“.

Dass die europäischen und nationalen Behörden bei Sicherheitsbedenken von Amts wegen vorgehen können, entbinde die Hersteller nicht von ihren eigenen Pflichten. Sie seien in der Pflicht, auch Nebenwirkungen zu beschreiben, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch auftreten können, sowie Warnhinweise „in allgemein verständlicher Form“ und „Maßnahmen für den Fall einer Überdosierung“.

Hier wurde den beiden Herstellern zum Verhängnis, dass entsprechende Hinweise zwar im Juni 2014 in die Fachinformation aufgenommen worden waren, nicht aber in die Gebrauchsinformation. Somit war laut OGH die möglicherweise letale Wirkung bei Überdosierung bekannt.

Kein Verweis auf Arzt und Apotheker

Die Tatsache, dass bei rezeptpflichtigen Medikamenten ein Aufklärungsgespräch durch Arzt und Apotheker erwartet werden könne, könne zwar im Einzelfall eine Auswirkung auf die berechtigten Sicherheitserwartungen oder etwa die Kausalität oder ein Mitverschulden des Anwenders haben, entbinde den Hersteller aber keineswegs generell von seiner Verpflichtung zu klaren und ausdrücklichen Warnhinweisen.

Die Überdosierung sei auch nicht derart fernliegend gewesen, dass von einem alleinigen Verschulden der Familie auszugehen sei: „Dass einem vierjährigen Kind eine derartige Menge eines Hustensaftes gegeben wird (etwa weil ihn versehentlich mehrere Familienmitglieder verabreichen, die verabreichende Person die ärztliche Anordnung nicht kennt und sich bei der Altersspalte verliest, oder sie dem Kind aufgrund starken Hustens [sukzessive] zu viel verabreicht), ist keineswegs in jedem Fall sozialinadäquat, unvorhersehbar oder geradezu absurd.“

Unbekannte Gefahr

Dies gelte umso mehr, da es es zahlreiche „harmlose“ Hustenmittel gebe, die bedenkenlos in größeren Mengen auch an Kinder verabreicht werden könnten. Die potenziell tödliche Wirkung von codeinhaltigen Medikamenten auf Kinder sei Anfang 2015 für Verbraucher dagegen nicht offenkundig und allgemein bekannt gewesen. Daran ändere im Übrigen auch die Tatsache nichts, dass die Halbschwester, die den Beipackzettel gelesen hatte, seinerzeit eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte: Aus der „Nebenwirkung: Atemnot durch Verengung der Atemwege“ hätte man keineswegs auf eine potenzielle Todesgefahr für Kinder bei Überdosierung und Kombination mit anderen codein- oder dihydrocodeinhaltigen Hustenmitteln schließen können oder müssen, so das Gericht.

Auch den Lohnhersteller sah der OGH in der Verantwortung: Durch die Auslieferung an den eigentlichen Hersteller sei von einem Inverkehrbringen auszugehen: „Wurde ein Produkt in Vertriebsabsicht aus dem Unternehmensbereich abgegeben und einer anderen Stufe des Wirtschaftskreislaufs zugänglich gemacht, so wurde es dadurch in Verkehr gebracht.“ Möglicherweise könne Haupt Pharma seinen Vertriebspartner in Regress nehmen; dies müsse im aktuellen Prozess aber nicht geklärt werden.