Kalkulierte Konfrontation Dr. Kerstin Neumann, 15.04.2016 13:06 Uhr
Wer sich mit Allergien herumschlägt, ist auf Akutmedikation angewiesen, um bei Heuschnupfensymptomen die laufende Nase und die triefenden Augen in den Griff zu bekommen. Das ist vor allem lästig – gefährlich wird es, wenn die Symptome sich verschlimmern und der Heuschnupfen zum allergischen Asthma wird. Besonders gefährlich sind Allergien gegen Insektengifte, die bei vielen Betroffenen eine schwere Immunreaktion bis hin zum anaphylaktischen Schock hervorrufen können. Vor allem bei schwer betroffenen Patienten bietet sich daher die Desensibilisierung an. Studien zeigen, dass in vielen Fällen die Beschwerden deutlich gebessert werden können.
Eine Desensibilisierung erfolgt durch die Gabe von sogenannten Therapie-Allergenen und kann bei Patienten mit mittelschwere bis schweren Symptomen durchgeführt werden. Die Therapie gilt als einzige kausale Behandlungsmöglichkeit. Das Prinzip ist einfach: Durch die kontinuierliche Gabe der Antigene in erst niedriger, dann immer weiter ansteigender Dosierung, soll das Immunsystem eine Toleranz entwickeln. Gelingt dies, kann die überschießende Reaktion des Körpers durch massive Histamin-Ausschüttung vermieden werden. Die Behandlung erfolgt über drei Jahre. In vielen Fällen kann bereits nach einem Jahr eine deutliche Besserung der Beschwerden beobachtet werden.
Eine immunologische Toleranz ist dann erreicht, wenn das Immunsystem eine Balance von verschiedenen Subpopulationen der T-Lymphozyten herstellen kann. Diese T-Zellen sind das zentrale Bindeglied zwischen spezifischer und unspezifischer Immunantwort und wesentlich an der Allergenerkennung beteiligt. Damit regulieren sie den Ablauf der ausgelösten Entzündungsreaktion. Bei Allergikern ist dieses Gleichgewicht gestört – die regulatorischen T-Zellen sind vermindert, die sogenannten TH2-Zellen, die die Immunreaktion triggern, dagegen erhöht. Durch die spezifische Immuntherapie soll das Gleichgewicht wieder stärker zu Gunsten der regulatorischen T-Zellen verschoben werden.
Eine spezifische Immuntherapie kann nach unterschiedlichen Zeitmustern durchgeführt werden. In der Regel wird die Anwendung der Therapieallergene dem Rhythmus angepasst, mit dem die Symptome auftreten. Bei saisonalem Heuschnupfen erfolgt die Behandlung jedes Jahr über einige Monate. Wenn die Therapie einige Wochen vor dem erwarteten Start der saisonalen Allergie beginnt, kann bereits eine leichte Linderung der Heuschnupfen-Symptome erwartet werden. Für die perennialen Allergien auf Hausstaubmilben hingegen wird eine ganzjährige Behandlung angestrebt.
Je nach Art der Allergie und Vorlieben der Patienten gibt es verschiedene Methoden der spezifischen Immuntherapie. Bereits seit 1925 wird die Subkutane Immuntherapie (SCIT) durchgeführt, bei der die Allergene in der Arztpraxis unter die Haut appliziert werden. Für die Desensibilisierung gegen Insektengifte ist sie die einzige Methode, die Behandlung wird aber auch gern zur Desensibilisierung von Heuschnupfen- oder Milbenallergikern durchgeführt.
Die SCIT hat den Vorteil der hohen Therapietreue, da die Behandlung nur in der Arztpraxis durchgeführt wird. Gleichzeitig bedeutet dies aber einen hohen Aufwand für den Patienten, was besonders berufstätige Allergiker häufig abschreckt. Als Nebenwirkungen der Behandlung treten vor allem lokale Hautreaktionen am Applikationsort auf. Die häufig geäußerte Sorge, im Rahmen der Spritzentherapie einen lebensgefährlichen anaphylaktischen Schock zu erleiden, ist nicht begründet: Eine Risikoeinschätzung aus Daten seit dem Jahr 1945 ergab, dass im Rahmen einer SCIT ein Todesfall pro zwei Millionen behandelten Personen aufgetreten ist.
Als Alternative gibt es seit einigen Jahren die Sublinguale Immuntherapie (SLIT) zur Behandlung von Pollen- und Hausstaubmilben-Allergien. Dabei wird die Therapie vom Arzt eingeleitet und anschließend vom Patienten selbst fortgeführt. Im Rahmen der Behandlung werden die Therapieallergene unter die Zunge appliziert – entweder in Form von Tropfen oder als Sublingualtablette. Die Vor- und Nachteile liegen hier naturgemäß genau umgekehrt als bei der SCIT: Die Applizierung ist deutlich einfacher, dafür muss sichergestellt werden, dass sie kontinuierlich erfolgt.
Als Nebenwirkung treten vor allem zu Beginn der Behandlung lokale Reizungen im Mund- und Rachenraum auf, was auf eine lokale Immunreaktion zurückzuführen ist. Diese klingen bei kontinuierlicher Anwendung nach einigen Wochen in der Regel von selbst ab. Anaphylaktische Reaktionen im Rahmen einer SLIT sind bis heute nicht bekannt.
Beide Methoden sind mittlerweile gut untersucht und gelten als sicher und wirksam. Die wissenschaftliche Studienlage ist für die SCIT bislang noch besser – es wurden deutlich mehr und größere Studien durchgeführt. Allein für die Behandlung von Patienten mit allergischem Heuschnupfen wurden mehr als 1000 Studien veröffentlicht. Eine Analyse der wissenschaftlich nach höchsten Kriterien durchgeführten klinischen Studien zeigt, dass die allergischen Beschwerden der Studienteilnehmer im Durchschnitt um 30 bis 45 Prozent stärker gelindert werden konnten als bei einer Placebotherapie. Für andere Arten der Allergie ist die Datenlage für die SCIT nicht ganz so eindeutig. In der aktuellen Leitlinie zur Spezifischen Immuntherapie wird ein Einsatz der SCIT bei Hausstaubmilben-Allergie jedoch empfohlen.
Auch zur Wirksamkeit der SLIT liegen Studienergebnisse vor, die eine Wirksamkeit zeigen. Die Daten sind jedoch weniger umfangreich als bei der SCIT. Erst seit knapp zehn Jahren stehen Daten aus großen klinischen Studien zur Verfügung, die allerdings nur zu wenigen Produkten durchgeführt worden sind. Am besten ist die Studienlage für Sublingualtabletten gegen Gräserpollen: Hier konnte eine durchschnittlicher Symptomlinderung von knapp 35 Prozent gegenüber Placebo erreicht werden.
Direkte Vergleiche der beiden Behandlungsmethoden gibt es kaum. Aufgrund der insgesamt umfangreicheren Datenlage wird von Allergologen häufig die SCIT vorgezogen, echte Belege, ob eine Methode wirksamer ist als die andere, gibt es bislang nicht. Insgesamt wird aber die Studienlage sowohl für SLIT als auch für SCIT als verbesserungswürdig eingeschätzt. Viele ältere Untersuchungen wurden mit unterschiedlichen statistischen Auswertungen durchgeführt. Außerdem wurden häufig nicht-regulierte Allergenextrakte verwendet, die sich nur schwer miteinander vergleichen lassen. In Fachkreisen gelten dennoch beide Methoden zur Desensibilisierung als sinnvoll bei Patienten, die stark unter ihrer Symptomatik leiden.
Eine besondere Rolle bei der Spezifischen Immuntherapie spielen Patienten mit allergischem Asthma: Hier wird die Anwendung nach wie vor kontrovers diskutiert. Allergologen empfehlen die leitliniengerechte Anwendung bei Patienten mit Schweregrad I und II, allerdings nur nach strenger Indikationsstellung und in Form der SCIT. Um im Fall eines provozierten Anfalls durch die Einnahme der Allergene schnell reagieren zu können, wird die Behandlung in der Arztpraxis der SLIT vorgezogen.
Patienten, die bereits ein allergisches Asthma entwickelt haben, scheinen jedoch insgesamt nicht so stark von der Desensibilisierung zu profitieren. Laut einer Metaanalyse können zwar bei Patienten die Asthmasymptome verringert werden, eine tatsächliche Besserung der Lungenfunktion wird aber nicht erreicht. Hier muss daher individuell abgewogen werden, ob sich die Lebensqualität der Patienten bessert.