Dingermann: „Gezielte Missbrauchsforschung“ Julia Pradel/dpa, 08.09.2015 11:35 Uhr
Eine Tagung von Heilpraktikern endete am Freitagnachmittag in einem Massenrausch: Die rund 30 Homöopathen hatten vermutlich kollektiv die Szenedrogen 2C-E genommen, die auch unter dem Name „Aquarust“ bekannt ist. Die Hintergründe stellen Experten vor ein Rätsel. Die Betroffenen sollen noch in dieser Woche von der Polizei befragt werden.
2(4-Ehyl-2,5-dimethoxyphenyl)ethanamin ist ein Aufputschmittel aus der Gruppe der Phenylethylamine, erklärt Professor Dr. Theo Dingermann, Seniorprofessor am Institut für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Die Gruppe 2C unterscheidet sich von anderen Substanzen durch ihre Substituenten. Diese machen die Stoffe zu besonders psychedelisch wirksamen Substanzen.
2C-E bindet 5-HT2A-Rezeptoren und löst so die psychedelischen Effekte aus. Gleichzeitig wirkt die Substanz als Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI). Dadurch hält die Wirkung sehr lange an – für acht bis zwölf Stunden. SSNRI werden üblicherweise bei Depressionen und Angststörungen eingesetzt. Wirkstoffe sind Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran. Die Substanzklasse der Amphetamine, zu der 2C-E gehört, sei früher in Appetitzüglern eingesetzt worden, erklärt Dingermann. Inzwischen würden die Substanzen aber nicht mehr eingesetzt, da hohe Nebenwirkungen aufgetreten seien.
Dass die Heilpraktiker bei ihrer Tagung auf der Suche nach medizinischen Anwendungen waren, kann sich Dingermann nicht vorstellen. „Amphetamine sind therapeutisch ausgelutscht – aber nicht, was ihre illegale Nutzung angeht.“ Immer wieder würden Menschen die Stoffe „mit verrückter Chemie“ synthetisieren, um bestimmte Effekte zu erreichen. Als „gezielte Missbrauchsforschung“ bezeichnet Dingermann daher die Entwicklung von immer neuen Substanzen.
Warum Homöopathen, „die normalerweise mit null Substanz arbeiten“, einen hoch konzentrierten und hoch wirksamen Stoff eingenommen haben, ist für Dingermann ein Rätsel. Mit einem Augenzwinkern liefert er einen möglichen Erklärungsansatz: 2C-E könne auch epileptische Anfälle auslösen, so Dingermann. Nach dem Simile-Prinzip der Homöopathie wird ein Arzneimittel so ausgewählt, dass es an Gesunden ähnliche Symptome hervorruft, an denen der Kranke leidet. Dass dies das Ziel der Heilpraktiker war, kann sich Dingermann aber kaum vorstellen.
Die Wirkung von 2C-E sei sehr stark psychedelisch und halluzinogen. Die Konsumenten würden etwa Farben sehen oder körperliche Sensationen erleben. „Eine sehr bizarre Erfahrung“, so Dingermann. „Das Schlimme ist, wie häufig bei psychedelischen Drogen: Die Wirkung ist für den Einzelnen nicht vorhersehbar.“
Die Wirkung hängt auch von der Dosis ab. Üblicherweise werden 10 bis 25 mg der Substanz eingenommen, entweder oral – dann setzt die Wirkung laut Dingermann nach etwa einer Stunde ein – oder geschnupft. Das Schnupfen der Kristalle beschreiben Konsumenten als sehr schmerzhaft, die Wirkung tritt dann deutlich schneller ein.
Über die Wirkung verschiedener Dosen und das Abhängigkeitspotenzial ist laut Dingermann nur wenig bekannt. Er schätzt die Gefahr einer Abhängigkeit für nicht sehr hoch ein. „Man nimmt die Substanz nicht oft, sondern eher experimentell“, erklärt er. 2C-E wurde in den USA von dem Chemiker und Pharmakologen Alexander Shulgin synthetisiert.
Das mutmaßliche Drogenexperiment der Heilpraktiker in einem Tagungshaus im niedersächsischen Handeloh hatte am Freitag einen Großeinsatz von Polizei und Rettungskräften ausgelöst. 29 Seminarteilnehmer wurden mit Wahnvorstellungen, Krämpfen, Schmerzen, Luftnot und Herzrasen in Krankenhäuser gebracht.
Gegen sie wird wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt. In Deutschland ist 2C-E seit dem 13. Dezember 2014 nicht mehr verkehrsfähig. Ob alle die Substanz freiwillig nahmen, ist einem Polizeisprecher zufolge noch unklar. Auch das Untersuchungsergebnis der Blutproben liege noch nicht vor.