Suizidgefahr im Alter am Höchsten Alexandra Negt, 27.11.2019 09:45 Uhr
An Depressionen kann man jederzeit erkranken – bei älteren Menschen bleibt das Leiden jedoch häufig unerkannt. Eine Diagnosestellung kann durch Komorbidität erschwert werden. In der Bevölkerung wird Depression außerdem häufig als Begleiterkrankung des Alterns angesehen. Aufgrund des demografischen Wandels wird sich das Problem laut Experten verstärken. Das aktuelle Deutschland-Barometer zeigt, dass das Problem völlig falsch eingeschätzt wird.
Die Altersdepression unterscheidet sich nicht von einer Erkrankung in anderen Altersstufen. Es sind nicht mehr alte Menschen depressiv als jüngere – jedoch ist die Suizidrate bei den über 80-Jährigen deutlich erhöht. Die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zeigt, dass es je 100.000 Einwohner bei den 45- bis 70-Jährigen zu durchschnittlich 20 Suizidfällen kommt, bei Menschen über 80 steigt die Rate auf 50 bis hin zu 90 Fällen bei den über 90-Jährigen an. Diese Zahlen gelten für Männer – bei den Frauen bleibt die Suizidrate unabhängig vom Alter relativ konstant bei 5 bis 10 Fällen je 100.000 Einwohner.
Ungefähr 6 Prozent der 70- bis 79-Jährigen erkranken laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) im Laufe eines Jahres an einer Depression. Leitsymptome einer Depression sind Interessensverlust, depressive Verstimmungen und gestörter Antrieb. Zu auftretenden Nebensymptomen gehören häufig Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Schuldgefühle, pessimistische Zukunftsperspektiven und Suizidgedanken.
Die Anzahl diagnostizierter Depressionen steigt. „Das ist eine positive Entwicklung“, betont Professor Dr. Ulrich Hegel, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, „durch die erhöhten Diagnosezahlen sinkt gleichzeitig die Zahl an Suiziden.“ Kam es 1980 noch zu 18.000 Suiziden in Deutschland, so sank die Zahl 2017 auf 9000 Fälle. Durch frühzeitige Diagnosen durch den Hausarzt könnte diese Zahl weiter sinken. Hegel gibt zu bedenken, dass eine Diagnose bei älteren Patienten noch wichtiger ist, da sie tödlicher verläuft.
Für die Umfrage „Depressions-Barometer“ wurden 5350 Bundesbürger zwischen 18 und 79 Jahren befragt. 350 von ihnen waren älter als 70 Jahre. Der Schwerpunkt lag darauf, was sie über Depressionen bei älteren Menschen wissen und denken. Die Auswertung des Deutschland-Barometers „Volkskrankheit Depression – so denkt Deutschland“ zeigt, dass fast alle Befragten denken, dass eine Depression jeden treffen kann und diese Erkrankung lebensbedrohlich sein kann. 70 Prozent sehen die Ursachen für die Krankheitsentstehung in der Gesellschaft und rund ein Viertel setzt Depressionen mit dem Begriff Burnout gleich. Knapp 30 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass man eine Depression aus eigener Kraft meistern kann.
Teile der Ergebnisse klingen nach Stigmatisierung: So sprach sich jeder sechste Befragte dafür aus, die Kosten für die Behandlung von Depressionen bei älteren gering zu halten. Gut ein Fünftel ist der Ansicht, dass die Behandlung körperlicher Erkrankungen bei Älteren wichtiger sei. Ein Drittel der jungen Befragten glaubt darüber hinaus, dass sich Depressionen im Alter schlecht oder überhaupt nicht behandeln lassen.
Als Ursachen sehen 97 Prozent Überforderung und Stress. Ebenfalls relevant für die Entstehung sehen 96 Prozent der Befragten schwere Schicksalsschläge. 31 Prozent sind der Meinung, dass die Erkrankung durch Charakterschwäche ausgelöst wird. Auf die Frage, was gegen Depressionen helfe antworteten 96 Prozent, dass eine Psychotherapie Abhilfe schaffen würde. 74 Prozent sehen einen Urlaub als hilfreich an, 73 Prozent finden die Einnahme von Medikamenten sinnvoll. Ein Fünftel der Befragten ist der Ansicht, dass Betroffene sich einfach zusammenreißen müssten.
Die Meinung zu Antidepressiva ist gespalten, zwar empfinden 79 Prozent der Befragten eine Einnahme von Medikamenten als wirksam, jedoch befürchten 77 Prozent eine Abhängigkeit. Über zwei Drittel der Befragten sind der Meinung, dass Antidepressiva den Charakter verändern könnten. Nicht-medikamentöse Behandlungsoptionen wie Wach- oder Lichttherapie sind in der Bevölkerung eher unbekannt. Generell fühlen sich über die Hälfte, der über Siebzigjährigen nicht angemessen über Altersdemenz informiert.
Begeben sich Menschen in psychotherapeutische Behandlung, so kommt es bei fortschreitender Therapie häufig zu Gedanken die einen Therapieabbruch in Erwägung ziehen. Betroffene denken häufig, dass es sinnvoller gewesen wäre den alten Zustand beizubehalten. „Denn im Laufe der Therapie kann es zu Veränderungen im Umgang mit sich selbst und mit anderen kommen – nicht selten wenden sich Verwandte und Bekannte dann von einem ab“, berichtet Manfred Bieschke-Behm, der als Betroffener auf der Pressekonferenz zum Deutschland-Barometer spricht. „Erst wenn man die Erkrankung annimmt, kann man sich ihr auch stellen. Im Laufe der Zeit lernt man, dass man die Depression nur als Untermieter in sich wohnen lassen muss, man lernt sie zu beherrschen und mit ihr umzugehen“, erzählt Bieschke-Behm weiter. In den Selbsthilfegruppen sieht er 90 Prozent Frauen, mehr Männer sollten laut ihm ermutigt werden diesen Schritt zu gehen. Als erste Anlaufstelle sieht er den Hausarzt.
Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind mitunter lang. Zur Überbrückung kann auch der behandelnde Hausarzt Hilfestellung leisten. Hegel betont, dass eine initiale Medikation einen Anstoß geben kann weiterführende Therapien und Selbsthilfeprogramme in Anspruch zu nehmen. Bei vorliegenden Grunderkrankungen würden sich nicht alle Psychopharmaka zur Behandlung eignen, einige selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) hätten jedoch kaum Neben- und Wechselwirkungen, diese sollten bevorzugt bei Komorbiditäten verschrieben werden, erklärt Hegel.
Zu den allgemeinen Nebenwirkungen dieser Wirkstoffe zählen Kopfschmerzen, Unruhe, Schlafstörungen und Übelkeit, sowie Verdauungsprobleme. Wird die Therapie abgesetzt, bilden sich diese allgemeinen unerwünschten Wirkungen innerhalb von ein bis zwei Wochen zurück. Aktuell liegt ein Warnhinweis zum Auftreten von sexuellen Dysfunktionen vor, die auch nach Absetzen der SSRI bestehen bleiben können.