Sucht: Schmerzmittel vor Alkohol Nadine Tröbitscher, 09.10.2019 12:23 Uhr
Missbrauch ja, Schmerzmittelsucht wie in den USA nein: Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) wendet sich dennoch gegen unkontrollierte Abgabebedingungen, die – angesichts der aktuellen Datenlage – eine Schmerzmittelsucht fördern. Fest steht aus Sicht der Mediziner: Die Entwicklung zu freiverkäuflichen Schmerzmitteln ist bedenklich. Die Verbraucher sollten für einen unsachgemäßen Gebrauch sensibilisiert werden.
Die gute Nachricht vorweg: Der „Epidemiologische Suchtsurvey 2018“ des Instituts für Therapieforschung zeigt, dass sich eine Opiodkrise wie in den USA hierzulande nicht entwickelt hat. Dennoch scheint die Lage ernst: Laut Survey haben 17,5 Prozent der Befragten – entsprechend neun Millionen Menschen – in den letzten 30 Tagen ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel eingenommen. Etwa doppelt so hoch (31,5 Prozent, 16,2 Millionen Menschen) ist der Anteil derjenigen, die ein OTC-Analgetikum eingenommen haben. Das bedeutet: Etwa 26 Millionen Menschen haben im letzten Monat ein Schmerzmittel eingenommen – davon 1,9 Millionen sogar täglich. Mit fatalen Folgen.
Viele Menschen wüsste nicht, „dass auch der unsachgemäße Gebrauch freiverkäuflicher nicht-opioidhaltiger Analgetika über einen längeren Zeitraum (ab 15 Tage pro Monat) bedenklich sein kann“, so Dr. Johannes Horlemann, Präsident der DGS, in Bezug auf den Survey. Die Folgen können ein arzneimittelinduzierter Kopfschmerz bis hin zur Abhängigkeit sein.
Schätzungsweise sind etwa 1,6 Millionen der 18- bis 64-Jährigen schmerzmittelabhängig. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die 12-Monats-Prävalenz für eine Analgetikaabhängigkeit liegt bei Frauen bei etwa 3,1 Prozent und bei Männern bei etwa 1,9 Prozent. Der Anteil aller durch Analgetika verursachten psychischen Störungen wird auf 12 Prozent geschätzt. „Es ist zu wenig verbreitet, dass auch nicht-opioidhaltige freiverkäufliche Analgetika zur Sucht führen und sehr häufig psychische Folgeerkrankungen auslösen beziehungsweise gemeinsam mit ihnen auftreten“, so Horlemann.
Die Daten zeigten, dass der Großteil der Abhängigkeiten durch freiverkäufliche Schmerzmittel und nicht durch Opioide verursacht sei. „Somit unterstützt die Datenlage eine seriöse Opioidtherapie im schmerzmedizinischen Bereich“, so Horlemann. „Wenn auch die Schmerzmittelabhängigkeit in ihrer Prävalenz die Alkoholabhängigkeit überholt hat, lassen sich Hinweise dafür finden, dass vorrangig die psychische Komorbidität bei Schmerzmittelsucht im Nicht-Opioidbereich die Problematik in Deutschland erklärt“, bezieht die DGS Stellung.
Die Gesellschaft unterstützt die „Initiative des Gesundheitsministers, die freie Abgabe von Schmerzmitteln an Patienten verstärkt zu kontrollieren beziehungsweise zu beenden“. Eine Verschreibungspflicht bei OTC-Analgetika werde derzeit jedoch nicht beabsichtigt. Die DGS bezieht sich lediglich auf die geplanten Warnhinweise und „unterstützt dies, um die Verbraucher für einen unsachgemäßen Gebrauch, der freiverkäuflichen Medikamente zu sensibilisieren“.
Gemäß der Analgetika-Warnhinweisverordnung müssen Humanarzneimittel, die nicht der Verschreibungspflicht unterliegen und Acetylsalicylsäure (ASS), Diclofenac, Ibuprofen, Naproxen, Paracetamol, Phenazon oder Propyphenazon enthalten und ausschließlich zur Behandlung leichter bis mäßig starker Schmerzen oder von Fieber zugelassen sind, den Warnhinweis tragen: „Bei Schmerzen oder Fieber ohne ärztlichen Rat nicht länger anwenden als in der Packungsbeilage vorgegeben“. Eingeschlossen sind sowohl orale als auch rektale Applikationsformen. Der Warnhinweis ist die Alternative zum Votum des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht vom 26. Juni 2012, Großpackungen von OTC-Analgetika, die einen Vorrat für mehr als vier Tage beinhalten, der Rezeptpflicht zu unterstellen.