NDR Visite

SSRI: Nebenwirkung Suizid

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Berlin -

Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland etwa 10.000 Menschen das Leben – mehr Menschen, als bei Verkehrsunfällen sterben. So beginnt der NDR die Sendung Visite zum Thema: „Medikamente gegen Depression: Nebenwirkung Suizid?“ Denn einige Patienten entwicklen den „Suizid-Wunsch“ erst während der Behandlung mit Antidepressiva. Visite fragt: „Können Medikamente gegen Depressionen tatsächlich zu Selbstmorden führen?“

Die Antwort liefert Psychiater Professor Dr. Tom Bschor von der Schlosspark-Klinik Berlin. Fest stehe, dass Menschen, die mit Antidepressiva behandelt werden, nicht weniger Suizide begehen, obwohl die Arzneimittel die Depression bessern. „Das ist schon sehr erstaunlich. Tendenziell ist es sogar so, dass die Menschen, die das Antidepressivum bekommen, sogar mehr Suizidversuche unternehmen.“ Antidepressiva würden zu oft und zu sorglos verschrieben, klagen Experten.

Der Suizid-Forscher Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen hat Daten von 250.000 Menschen, die mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) behandelt wurden, ausgewertet. 85 der Patienten wurden durch die Arzneimitteltherapie suizidal. Die Wirkung der SSRI beruht auf einer selektiven Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin durch die präsynaptischen Nervenzellen. Die Konzentration des Neurotransmitters im synaptischen Spalt steigt – Ängste, Traurigkeit, Antriebslosigkeit und Depression werden vermindert. Die Fähigkeit, im Alltag zu funktionieren, werde erhöht, jedoch werde auch in einigen Fällen der Wunsch nach Selbstmord gesteigert. Ein bekanntes Problem bei Antidepressiva. Gefährlich wird es vor allem, wenn bei schwer depressiven Menschen nur der Antrieb gesteigert wird, nicht aber die Stimmung. Hinzu kommt, dass die antidepressive Wirkung erst nach einigen Wochen einsetzt, während die aktivierenden Effekte meist schnell sichtbar werden. Folge: Die Patienten sind zwar immer noch depressiv, haben aber mehr Energie und setzen ihren Selbstmordgedanken in die Tat um.

Laut Bschor ist das Risiko vor allem zu Beginn der Behandlung, nach jeder Dosiserhöhung und nach dem Absetzen der Psychopharmaka erhöht. Vor allem in diesen Phasen sollte ein genauer Blick auf mögliche Suizidgedanken gelegt werden. Müller-Oerlinghausen zeigt ein weiteres Problem auf. Entwickeln Patienten unter SSRI Suizidgedanken, würden Ärzte dies nicht als Nebenwirkung der Arzneistoffe realisieren und stattdessen die Dosis erhöhen – mit fatalen Folgen. „Und am nächsten Tag springt die Frau vor den Zug.“ Dies sei so immer und immer wieder geschehen.

Besonders gefährdet, sich selbst oder anderen Gewalt an zu tun, seien vor allem Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahre. Aber auch ältere Patienten können betroffen sein. „Das Neue an diesen neuen Substanzen ist, dass sie in einem Menschen, der niemals früher Suizidideen gehabt hat, solche Gedanken erzeugen und gleichzeitig, und das ist eine allgemeine Eigenschaft der SSRI, Unruhe machen“, so Müller-Oerlinghausen. Denn ein Warnzeichen suizidaler Gedanken unter SSRI ist eine krankhafte Unruhe – Stillsitzen ist unmöglich. Experten sprechen von einer Akathisie. Laut Bschor werde diese unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) oft gar nicht als solche erkannt. Stattdessen denke man, die Depression werde schlimmer.

Ein Auslöser für Suizidalität ist möglicherweise eine mangelnde Verträglichkeit der Arzneistoffe, lautet eine neue Erkenntnis. So können einige Menschen aus genetischen Gründen Antidepressiva nicht verstoffwechseln – die Leber baut den Arzneistoff zu langsam ab und die UAW nehmen zu.

Das Fazit: Wichtig ist, dass sowohl Patienten als auch Angehörige um das Risiko der Suizidalität unter Antidepressiva wissen und von kundigen Therapeuten betreut werden. „Ärzte, die nur ein Rezept ausstellen, handeln fahrlässig.“

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