Rezeptfrei erhältliche Präparate können in toxikologischer Hinsicht Gefahren bergen, doch das ist für Laien nicht immer selbstverständlich. Das in diesem Zusammenhang Aufklärungsbedarf besteht, zeigt ein aktueller Fallbericht im „Journal of the American Medical Association“. Darin erklären die Wissenschaftler, wie ein unbedachter Konsum Selen-haltiger Präparate bei einer Patientin zu Hirnschäden und Sehverlust geführt hat.
Eine Frau, Anfang 50, zeigte zwei Monate lang progressive kognitive Beeinträchtigungen und hatte einen Sehverlust. Sie war nicht in der Lage, Zahlen oder Linien auf Ishihara-Platten zu erkennen. Ergebnisse des Elektroretinogramms waren normal. Allerdings war in der Magnetresonanztomographie (MRT) Anomalien der Substantia alba und damit Hirnatrophien zu erkennen. Die Ärzte kamen zunächst nicht auf die Ursache der Beschwerden, da diverse Tests auf Antikörper, Enzyme und Gendefekte negativ ausfielen. Die Frau nahm weder verordnete Medikamente noch illegale Drogen zu sich.
Den entscheidenden Hinweis lieferte sie dann, als sie angab, dass sie täglich Selen-Supplemente mit 200 μg Wirkstoff pro Tablette einnahm. „Sie glaubte, dass dies ihr Immunsystem unterstützen würde“, schreiben die Wissenschaftler. Ein Jahr vor ihrer Vorstellung beim Arzt lag ihr Selenspiegel bei 193 μg/l. Damals nahm sie täglich eine Tablette ein. Sechs Monate danach hatte sie die Dosis auf sechs oder acht Tabletten pro Tag erhöht; das entspricht einem Selen-Gehalt von 1200-1600 μg täglich. Als sie aufgrund ihrer Beschwerden den Arzt aufsuchte, stellte dieser einen sehr hohen Serumspiegel von Selen bei 5370 μg/l fest. Dass die Dosis das Gift macht, war ihr anscheinend nicht bewusst. Nachdem sie die Einnahme von Selen beendet hatte, verbesserten sich ihre Symptome allmählich und ihr Selenspiegel sank. 22 Monate später hatte sie keine Symptome mehr.
Nahrungsergänzungsmittel (NEM) mit Selen sollten mit Bedacht eingesetzt werden, da der Mineralstoff eine relativ geringe therapeutische Breite hat. Als sicherer Bereich werden 400 μg Selen pro Tag angegeben. Bei höheren Dosen besteht die Gefahr eine Selenose, die zunächst mit Symptomen wie Übelkeit, Müdigkeit, Muskelschwäche und Durchfall einhergeht. Im weiteren Verlauf können Parästhesien infolge peripherer Neuropathie, Haarausfall, Hautläsionen, wässriger Durchfall und ein Verlust der Nägel die Folge sein. Eine akute Selentoxizität kann zudem zu Sehstörungen und Gedächtnisverlust führen.
Selen ist Bestandteil sogenannter Selenoproteine; ohne Selen könnten bestimmte Enzyme ihre Funktion nicht mehr ausüben. Dazu zählen die Steuerung des Energiestoffwechsels und des Wachstums. Außerdem schützt Selen vor oxidativem Stress und freien Radikalen. Selen trägt zu einer normalen Funktion der Schilddrüse bei und unterstützt das Immunsystem. Von großer Bedeutung ist das Spurenelement auch für den Mann, denn fehlt es, sind die Spermienbildung beeinträchtigt und die Fortpflanzung in Gefahr. Zu den Selenquellen gehören Fleisch, Eier, Milch und Fisch sowie Paranuss, Brokkoli und Blumenkohl, Zwiebel, Pilze und Spargel.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat für Frauen, eingeschlossen Schwangere, einen täglichen Bedarf von 60 µg und für Männer von 70 µg festgelegt. Stillenden wird mit 75 µg ein erhöhter Bedarf zugesprochen. Von einem Mangel sprechen die Experten, wenn weniger als 80 µg/l Blut nachzuweisen sind. Kann eine ausgewogene Ernährung einen Mangel nicht ausgleichen, können Nahrungsergänzungs- und Arzneimittel eingenommen werden. Pro Tag sollten jedoch Erwachsene laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) nicht mehr als 300 µg substituieren. Extra zugeführt wird Selen bei Schilddrüsenerkrankungen, HIV, Hashimoto-Thyreoiditis, Dialyse oder auch zur Verbesserung der Nebenwirkungen im Rahmen einer Chemotherapie. Dem Spurenelement werden immunmodulierende, antioxidative und antientzündliche Eigenschaften zugesprochen.
Substitute können Natriumselenit enthalten. Die anorganische Verbindung ist in verschiedenen Stärken erhältlich. Cefasel beispielsweise ist in 50 µg apothekenpflichtig und zu 100 und 300 µg verschreibungspflichtig. Cefasel nutri ist als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) eingestuft und als Tablette zu 50, 100 und 200 µg erhältlich – als Mikropellets zu 100 µg. Selen Loges NE, Selenase (Biosyn) oder Selen Forte Syxyl sind ebenfalls als Natriumselenit in unterschiedlichen Stärken erhältlich. Verwender sollten zu Natriumselenit einen Abstand zu Vitamin C von einer Stunde halten, da sonst die Aufnahme verringert sein kann.
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