Die Verlosung des teuersten Medikaments der Welt, einer individuell gefertigten Gentherapie für todkranke Babys, hat viel Aufmerksamkeit geweckt: Pharmafirmen setzen auf personalisierte Medizin und brauchen dazu Riesendatenmengen. Auch vom Smartphone.
Eine runde Acht auf den Smartphone-Bildschirm malen oder möglichst schnell Zeichen und Zahlen zusammenordnen – das klingt wie nette Spielerei, doch die App Floodlight von Roche soll die Forscher vor allem mit Daten füttern. Daten von Multiple-Sklerose-Patienten. Die App zählt Schritte und Tempo, und Patienten laden Informationen über ihre Verfassung hoch. Noch ist sie nur für Teilnehmer klinischer Studien, aber das soll sich ändern. Daten sind das neue Gold der Pharmabranche. „Sie sind der zentrale Treiber für Veränderungen und Innovationen in der Pharmaindustrie in den kommenden Jahren“, sagt Roche-Verwaltungsratspräsident Christoph Franz.
Die Pharmabranche setzt massiv auf personalisierte Medizin oder Präzisionsmedizin. Das ist zum einen so etwas wie die millionenteure Gentherapie Zolgensma für todkranke Babys, die Novartis gerade 100 Mal verlost. Oder die Gentherapie Kymriah gegen eine aggressive Leukämie. Die Medikamente werden für jeden Patienten einzeln gefertigt. Gemeint ist aber auch eine Entwicklung, die die Behandlung aller Patienten revolutionieren soll. Bei Bluthochdruck Mittel A, bei Herzschwäche Mittel B: Dass Patienten mit gleicher Krankheit meist die gleichen Pillen bekommen, soll bald der Vergangenheit angehören. Dazu braucht die Pharmabranche mengenweise Patientendaten.
Sie sollen aus Studien, Apps und Arztpraxen kommen. Ärztinnen und Ärzte erfassen Informationen statt auf der Karteikarte immer öfter in einer elektronischen Patientenakte am Computer. „Wir können in den nächsten Jahren mit einer Explosion an Daten rechnen“, sagt Anne-Marie Martin, Leiterin der Präzisionsmedizin bei Novartis. Dazu gehören Befunde, Röntgen- und MRT-Bilder, Laboranalysen, Studien und auch das gute alte Arztgespräch – schlicht alles, was über die Gesundheit jedes Menschen vorhanden ist. Die Analyse massenhafter Daten kann Zusammenhänge aufzeigen, die bis dahin unbekannt waren. Bestimmte Gen- oder Zelleigenschaften, aber auch Alter, Gewicht, eine Vorerkrankung, andere Medikamente, Wohnort, Ethnie oder die Uhrzeit der Einnahme können Einfluss haben, ob ein Mittel wirkt oder nicht.
Aber wie steht es mit dem Datenschutz? Patienten sorgen sich, dass Krankenkassen dereinst etwa bei einer Anlage zu Diabetes im Erbgut einen Risikozuschlag verlangen könnten. Schon die geplante Einführung der elektronischen Patientenakte zum 1. Januar 2021 sei problematisch, warnte die Kassenzahnärztliche Vereinigung Bayerns gerade. Praxen seien nicht genügend vor Hackerangriffen geschützt, für Patientenakten würden 2000 Euro geboten. Die Pharmafirmen sagen, ihnen gehe es um anonymisierte Daten, sodass Patienten nicht identifiziert werden können. Experten für IT-Sicherheit, Datenschutz, Künstliche Intelligenz und Medizin erarbeiten im Auftrag des Bundesforschungsministeriums zur Zeit einen Standard für die sichere Verarbeitung der medizinischer Daten.
„Analysiert man solche Daten, lassen sich Behandlungen anbieten, die genau auf den Patienten zugeschnitten sind“, sagt Roche-Sprecher Daniel Grotzky. Martin von Novartis sagt: „Zum einen können wir die Patienten herausfiltern, bei denen eine bestimmte Behandlung besonders wirksam ist, zum anderen füttern die Daten auch den Entdeckungsmotor.“ So könnten neue Medikamente entwickelt werden für Patienten, die auf die herkömmliche Therapie nicht ansprechen.
In der Onkologie ist es oft schon üblich, Zellrezeptoren zu bestimmen und je nach Ergebnis zwei Frauen mit Brustkrebs unterschiedlich zu behandeln. Bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie Multipler Sklerose (MS) seien auch große Fortschritte zu erwarten, sagt Martin.
In der Alzheimerforschung hat Roche einen Test entwickelt, der einen Eiweißstoff messen kann, der für das Absterben von Nervenzellen verantwortlich sein könnte. Wenn der Stoff zuverlässig gemessen werden kann und es irgendwann ein Alzheimer-Medikament gibt, könnten Patienten schon vor den ersten Anzeichen behandelt werden. Der Konzern testet auch reiskorngroße Implantate im Auge von Patienten mit Netzhauterkrankungen, die zur Erblindung führen können. Geprüft wird, ob damit die individuelle, optimale Dosierung des Wirkstoffs bessere Ergebnisse für Patienten bringt. Boehringer Ingelheim wiederum teste seit vergangenem Jahr eine KI-Anwendung, die mittels eines Sprachtests Alzheimer-Demenz oder Schizophrenie erkennen soll.
Daten, Daten, Daten: Novartis führt schon Patienteninformationen aus Studien in einer Datenbank zusammen, damit Angaben von mehr als zwei Millionen Patienten digital analysiert werden können. Roche hat die auf Daten von Krebspatienten spezialisierte US-Firma Flatiron Health und die Foundation Medicine gekauft, die genetische Profile erstellt. Personalisierte Medizin gilt als Win-win-win. Patienten profitieren, weil sie schneller wirksam behandelt werden.
Krankenkassen sparen Geld, weil bei Patienten nicht unnötig erst teure Medikamente ausprobiert werden, die doch nicht helfen. Und Pharmafirmen können bei höherer Treffsicherheit bessere Preise aushandeln. „Wenn man den Behandlungserfolg beim Patienten belegen kann, wird der Wert einer Vergütung durch das Gesundheitswesen auch klarer“, sagt Roche-Sprecher Grotzky. Finnland gilt bei der Nutzung von Gesundheitsdaten als Goldstandard. Dort werden seit Jahren Patientendaten elektronisch erfasst. Im Projekt „FinnGen“ wird das Genom von einer halben Million Finnen entschlüsselt – um zum Wohle aller Krankheitsmuster zu finden.
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