Ritalin für ein besseres Leben dpa/APOTHEKE ADHOC, 18.10.2017 09:41 Uhr
Nicht nur Kinder leiden an ADHS, auch Erwachsene bekommen Medikamente gegen Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben. Vielen verhelfe das Medikament zu einem besseren Leben, sagen Mediziner. Manchmal stecken aber andere Motive dahinter, wenn Patienten um ein Rezept bitten.
Schon als kleiner Junge kann sich Johannes Schulte nicht gut konzentrieren. Mit elf Jahren erhält er die Diagnose ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Er erinnert sich an die Symptome: „Unruhe, Motivationslosigkeit und aggressives Verhalten“. Damals beruhigte ihn Ritalin, ein Medikament, das seit einigen Jahren auch Erwachsenen verschrieben wird. Denn die Krankheit verschwindet nicht automatisch mit zunehmendem Alter.
Studien zufolge verlieren sich bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder die ADHS-Symptome beim Heranwachsen. Der Großteil der anderen Hälfte behält zwar einzelne Symptome, ist dadurch aber nicht allzu sehr eingeschränkt und gilt somit nicht als krank. Nur bei etwa 1 bis 2,5 Prozent der Bevölkerung ist ADHS auch im Erwachsenenalter behandlungsbedürftig.
„Patienten haben Schwierigkeiten, sich länger zu konzentrieren bei Sachen, die keine Belohnung versprechen“, erklärt der Direktor der Erwachsenenpsychiatrie des Uniklinikums Frankfurt, Professor Dr. Andreas Reif. Sie seien desorientiert und ließen Dinge liegen. Am Arbeitsplatz hätten Betroffene oft Probleme, viele lebten in prekären Verhältnissen.
Mediziner therapieren Patienten mit dem Wirkstoff Methylphenidat, das bekannteste Mittel heißt Ritalin. „Patienten berichten, dass sie sich zum ersten Mal im Leben konzentrieren können“, sagt Reif. Der Antrieb zur Selbstkontrolle nehme zu, Hyperaktivität ab. Vielen werde ein „Vorhang weggenommen“. Dem verbreiteten Vorwurf, dass Ritalin Patienten ruhigstelle, widerspricht der Mediziner vehement.
Methylphenidat gehört zu den Amphetamin-ähnlichen Substanzen. Der Arzneistoff wirkt stimulierend im zentralen Nervensystem, der genaue Wirkmechanismus ist bislang nicht bekannt. Wahrscheinlich hemmt Methylphenidat, ähnlich wie Amphetamin, die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin im synaptischen Spalt und erhöht so die Konzentrationsfähigkeit. Als Nebenwirkungen treten unter Anderem Appetitmangel, Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen und Schwindel auf.
Wie viele Menschen in Hessen an der Krankheit leiden, ist nicht bekannt – und daher auch nicht, wie viele Erwachsene betroffen sind. Nach einer Auswertung der IKK Südwest ist die Zahl der Ritalin-Verordnungen für Erwachsene in Hessen unter den IKK-Versicherten zwischen 2010 und 2016 um mehr als das Fünffache gestiegen. IKK Südwest-Geschäftsführer Lutz Hager warnt vor einer „Übermedikation“ und fordert ein „wachsames Auge“.
Die AOK hat genau den gegenläufigen Trend registriert. 2012 nahmen etwa 1700 erwachsene AOK-Versicherte in Hessen mindestens einmal im Jahr Ritalin oder Stratera (Atomoxetin) ein, 2016 waren es nur noch rund 1100. Vor 2011 wurden solche Medikamente von Einzelfällen abgesehen, nur Kindern verordnet.
Dr. Michael Grube, Chefarzt für Psychiatrie am Klinikum Frankfurt Höchst, hält die Zahlen der Krankenkassen für nicht aussagekräftig: „Es ist Zufall, wo man gerade so versichert ist“. Dass mehr Menschen Ritalin verordnet bekommen, findet auch Grube sinnvoll – er warnt aber vor Missbrauch. „Es gibt Süchtige, die versuchen, dass der Arzt ihnen das verschreibt“, sagt Grube. Wie häufig ist Ritalin-Missbrauch? „Das sind schon einige“, sagt Grube. Harte Zahlen gibt es nicht.
Was hibbelige Kinder in niedriger Dosierung ruhiger macht, kann höher dosiert bei gesunden Erwachsenen antriebssteigernd wirken, denn Methylphenidat ist mit Amphetaminen verwandt und wird als Betäubungsmittel eingestuft. „Ritalin wird in der Szene oft als Speed verkauft“, berichtet das Infoportal drug-infopool. Das Medikament „kann zu Halluzinationen und überschwänglicher Euphorie führen“.
Am Klinikum Höchst konsultierten Mediziner bei Verdachtsfällen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten um herauszufinden, ob der angeblich betroffene Erwachsene schon als Kind schon ADHS hatte. Zur Not helfe der Blick in ein Schulzeugnis: „Stört den Unterricht“ stehe dann häufig auf dem Papier, sagt Grube.
Johannes Schulte ist mittlerweile 25 Jahre alt und hat nur noch wenige Erinnerungen an seine Zeit mit Ritalin. Es habe ihn beruhigt und Aggressionen gesenkt – aber auch Appetitlosigkeit ausgelöst, sagt er heute. Nach zwei Jahren wechselte er das Medikament, sei seinem 17. Lebensjahr ist er nicht mehr in Behandlung. Geholfen haben ihm auch Entspannungstechniken. Seit einem Jahr dient er bei der Bundeswehr. „Ich denke, ich habe mich gut im Griff“, sagt er.