Paracetamol: Größtes Risiko für Iren APOTHEKE ADHOC, 24.06.2015 10:33 Uhr
Das Image von Paracetamol ist angekratzt. Eine neue Studie wirft einen weiteren Schatten auf das Schmerzmittel. Internationale Wissenschaftler untersuchten Lebertransplantationen in sieben europäischen Ländern, denen akutes Organversagen durch eine Überdosierung von Paracetamol vorausging. Demnach sind die Iren sechsmal so gefährdet wie der Durchschnitt.
Die kürzlich im „British Journal of Clinical Pharmacology“ veröffentlichte Studie untersuchte Lebertransplantationen im Zusammenhang mit einer Paracetamol-Überdosierung im Zeitraum zwischen 2005 und 2007 in mehreren europäischen Ländern. Als Grundlage dienten entsprechende Verzeichnisse und Patientenakten aus 52 Transplantationszentren.
Die Wissenschaftler untersuchten Meldungen aus Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Großbritannien und den Niederlanden. Von 600 registrierten Fällen akuten Leberversagens innerhalb des Studienzeitraums konnten 114 auf Arzneimittelüberdosierungen zurückgeführt werden, 111 davon mit Paracetamol. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass in 72 Fällen bewusst eine Überdosis eingenommen wurde, in zehn Fällen unabsichtlich. Bei 32 Fällen konnte die Motivation nicht abschließend geklärt werden.
Die absolute Zahl an Lebertransplantationen sei nicht besonders hoch, räumen die Wissenschaftler ein. Durchschnittlich lag die Rate der Paracetamol-bedingten Lebertransplantationen bei einem Fall jährlich pro sechs Millionen Einwohner.
In Irland war die Quote am höchsten: Innerhalb von drei Jahren wurden 14 Fälle registriert, das entspricht einer Transplantation pro 286.000 Personen. In Italien war die Rate deutlich niedriger: Bei 60 Millionen Einwohnern gab es nur einen einzigen Fall innerhalb der kompletten drei Jahre. In Griechenland und Portugal wurden überhaupt keine Transplantationen wegen Paracetamol-Überdosierungen registriert, sodass diese Länder bei der Auswertung ausgeklammert wurden.
Pro Jahr und einer Million Einwohner kommt Irland damit auf 1,167 Fälle, Italien auf 0,006. Großbritannien (0,35), Frankreich (0,159) und die Niederlande (0,042) liegen dazwischen. Der Durchschnittswert liegt bei 0,164.
Zusätzlich setzte die Forschergruppe die Zahl der Operationen in Zusammenhang mit den im jeweiligen Land verkauften Mengen an Paracetamol. Hier zeigte sich eine ähnliche Tendenz: Während in Irland dem Verkauf von 289,6 Tonnen Paracetamol 14 Fälle von Überdosierung gegenüberstehen, kam in Italien nur eine Überdosierung auf 1074,4 Tonnen verkaufter Schmerzmedikamente.
Im Vergleich zum Durchschnitt der untersuchten europäischen Länder habe man in Irland ein sechs Mal höheres Risiko für ein Paracetamol-bedingtes Leberversagen festgestellt, in Großbritannien sei die Gefahr doppelt so hoch gewesen, sagte die Leiterin der Forschungsgruppe, Professorin Dr. Sinem Ezgi Gulmes von der Universität Bordeaux.
Die Wissenschaftler resümieren, Paracetamol sei nach wie vor fast ausschließlich die Ursache für Lebertransplantationen durch akute Arzneimittelüberdosierung. Die Zahlen in den untersuchten Ländern seien aber etwa acht Mal niedriger als die aus den USA bekannten Statistiken. Für die Abweichungen zwischen den untersuchten Ländern geben die Autoren allerdings keine Interpretationsansätze mit: „Die Gründe für die Unterschiede sind unklar, könnten aber Hinweise zu ihrer Vorbeugung geben.“
So könnte die Reduzierung der Verpackungsgröße eine Antwort sein – in Großbritannien habe die Maßnahme offenbar gewirkt, schreiben die Forscher. Großpackungen, wie sie beispielsweise in den USA als rezeptfreie Arzneimittel gängig sind, erhöhten das Risiko von spontanen Überdosierungen. Auch der Verkauf durch Apotheker spiele womöglich eine Rolle. Dennoch seien dies sicher nicht die einzigen Gründe für die Länderunterschiede, relativieren die Autoren. Die Ursache für die Abweichungen müsse an noch mehr Fällen von Überdosierungen genauer untersucht werden.
Auch in den sozialen Medien in Großbritannien hatte kürzlich ein gefährlicher Hype die Aufmerksamkeit auf die Risiken einer Überdosierung von Paracetamol gelenkt: Unter dem Hashtag #paracetamolchallenge forderten sich Jugendliche in den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram auf, möglichst große Mengen des Schmerzmittels Paracetamol einzunehmen. Neben namhaften Medien griff auch der britische Apothekerverband das Thema auf und bat die Pharmazeuten um besondere Vorsicht bei der Abgabe des Schmerzmittels, insbesondere an jüngere Personen.
Erst Ende vergangenen Jahres hatte der Spiegel unter Berufung auf eine damals noch unveröffentlichte Übersichtsarbeit von Professor Dr. Dr. Kay Brune berichtet, dass Kinder von Frauen, die während der Schwangerschaft regelmäßig Paracetamol einnahmen, häufiger an ADHS erkrankten. Die Ergebnisse der Studie waren umstritten, für eine Indikationseinschränkung reichten sie nicht, befand das deutsche Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie (Embryotox).
Brune schrieb, nach Auffassung von Experten würde Paracetamol heute nicht mehr zugelassen werden. Der Wissenschaftler ist als Kritiker des Wirkstoffs bekannt; schon mehrfach setzte er sich als Mitglied des Sachverständigenausschusses für eine generelle Verschreibungspflicht von Paracetamol ein.