Im OTC-Markt herrscht Verdrängungswettbewerb; Innovationen sind rar. Die Branche hofft auf die Entlassung neuer Wirkstoffe aus der Verschreibungspflicht. Doch im zuständigen Sachverständigenausschuss war es zuletzt eher ruhig. Laut Dr. Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH), könnte demnächst über ganz neue Indikationen für die Selbstmedikation diskutiert werden. Im Interview erklärt er, warum die Apotheken die Entwicklung positiv begleiten sollten.
ADHOC: Die Branche wartet auf OTC-Switches, aber in den vergangenen Jahren ist wenig passiert. Woran liegt das?
KROTH: So schlecht stehen wir gar nicht da. Wir haben eine sehr gute Switch-Tradition in Deutschland mit einem breiten Angebot an OTC-Produkten. Das gibt es nicht überall, gerade in Südeuropa ist man sehr restriktiv. Wichtige Wirkstoffe wie Ibuprofen und Naratriptan wurden sogar weltweit zuerst bei uns für die Selbstmedikation zugelassen. Neben Großbritannien ist Deutschland sicher führend bei diesem Thema.
ADHOC: Trotzdem gab es zuletzt kaum größere Switches.
KROTH: Das sehe ich nicht so. Gerade 2012/13 gab es einige bedeutende Veränderungen, denken Sie nur an Racecadotril oder die Kombination Ibuprofen/Pseudoephedrin.
ADHOC: Das waren aus fachlicher Sicht aber auch keine grundlegenden Entscheidungen.
KROTH: In Deutschland werden Medikamente nur auf Antrag in die Selbstmedikation entlassen. Wenn keine Anträge vorliegen, kann es auch keine Switches geben. In anderen Ländern können die Behörden eigenständig entscheiden, das ist bei uns nicht vorgesehen. Das hat auch Vorteile, denn bekanntlich hängt vom Vertriebsstatus die Erstattungsfähigkeit ab. Ausschlaggebend für einen Switch sind in Deutschland jedoch keine finanziellen, sondern ausschließlich wissenschaftliche Kriterien.
ADHOC: Wenn konkrete Anträge fehlen: Wäre keine übergeordnete Empfehlung möglich?
KROTH: Es hat Ansätze gegeben, grundlegend über das Thema arztgestützte Selbstmedikation zu diskutieren und dadurch ganz neue Bereiche für den OTC-Markt zu erschließen. In Deutschland stehen wir da noch ganz am Anfang. Für eine solche Debatte ist meiner Meinung nach allerdings der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht nicht der richtige Ort. Diese grundsätzliche Frage sollte im Vorfeld im Dialog mit allen Beteiligten geklärt werden.
ADHOC: Die reine Einzelfallbetrachtung führt oft zu einem Flickenteppich.
KROTH: Das liegt in der Natur der Sache. Wir haben uns im Sachverständigenausschuss zwar auch schon mit Wirkstoffgruppen beschäftigt, beispielsweise mit den Analgetika. Aber es stimmt schon: Manchmal ist es unbefriedigend, wenn man einen Wirkstoff aus der Rezeptpflicht entlässt und einen anderen aus derselben Gruppe nur deswegen nicht, weil schlichtweg kein Antrag gestellt wurde.
ADHOC: Naratriptan und Almotriptan sind rezeptfrei, Sumatriptan und Zolmitriptan nicht. Wie passt das zusammen?
KROTH: Unsere Empfehlungen sind immer das Ergebnis einer konkreten Beratung. Dabei müssen Kompromisse gemacht werden. Die Triptane sind aber ein Spezialfall, denn sie sind sozusagen im Bundesrat „hängen geblieben“, der ja immer einer Änderung einer Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zustimmen muss. Die Länder sind für den Verkehr mit Arzneimitteln verantwortlich und nehmen eine zunehmend aktivere Rolle ein. Im konkreten Fall gab es die Befürchtung, dass die AMVV zu komplex werden würde. Ich hoffe aber, dass in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde.
ADHOC: Sollten Entscheidungen zur Rezeptpflicht nicht konsistent und nachvollziehbar sein?
KROTH: Der Sachverständigenausschuss hat nicht die Aufgabe, von sich aus grundsätzliche Empfehlungen zu ganzen Wirkstoffgruppen oder sogar ganzen Indikationen auszusprechen. Unsere Arbeit orientiert sich am Einzelfall und ist dadurch in höchstem Maße praxisorientiert: Beispielsweise geht es oft darum, zunächst mit kleinen Packungen die Eignung für die Selbstmedikation zu testen. Später können Dosierung oder Packungsgröße angepasst werden. Dass das Modell funktioniert, zeigt übrigens auch die geringe Zahl an Fällen, in denen Wirkstoffe wieder der Rezeptpflicht unterstellt wurden.
ADHOC: In den Apotheken wird durch die Einschränkungen aber die Beratung mitunter erschwert.
KROTH: Wir beschäftigen uns heute nicht mehr mit Substanzen, die seit Jahrzehnten auf dem Markt sind. Die heutigen OTC-Switches haben den Zweck, bei modernen Wirkstoffen mit ausreichenden Erfahrungswerten für die Patienten eine zusätzliche Option zu schaffen. Da sind Differenzierungen nicht zu vermeiden. Wer einen akuten Migräneanfall hat, sollte sich nicht erst ins Wartezimmer setzen müssen. Wenn die Erkrankung zuvor einmal ärztlich diagnostiziert wurde, sollte der Patient schnelle Hilfe in der Apotheke erhalten können.
ADHOC: Verstehen Sie die Verunsicherung vieler Apotheker?
KROTH: Nein. Denn meiner Meinung nach werden Apotheker gerade durch komplexe Switches in ihrer Rolle als unabhängige Arzneimittelexperten gestärkt. Sie sollten die Entwicklung also aktiv begleiten.
ADHOC: Wer kann einen OTC-Switch beantragen?
KROTH: Theoretisch jeder, de facto kommen die Anträge aber naturgemäß von den Herstellern. Wobei „Antrag“ eigentlich der falsche Begriff ist, denn es gibt keinerlei Anspruch auf Prüfung durch den Sachverständigenausschuss.
ADHOC: Also kommen die Unternehmen als Bittsteller?
KROTH: Soweit würde ich nicht gehen. Aber das Verfahren sollte transparenter sein und hat aus meiner Sicht noch Verbesserungspotenzial. Erst seit zwei Jahren erhalten die Firmen überhaupt eine Eingangsbestätigung, dass Ihr Antrag bearbeitet wird. Ich wünsche mir insgesamt eine offenere und direktere Kommunikation zwischen Behörden und betroffenen Unternehmen. Das Gutachten, das die Behörde im Vorfeld der Beratung erstellt, wird dem Unternehmen beispielsweise vorenthalten. An der Sitzung dürfen Vertreter der Unternehmen auch nur nach Zustimmung des Ausschusses teilnehmen – selbst dann müssen sie unmittelbar nach ihrem Vortrag den Raum verlassen. Mit einer echten Diskussion aller Beteiligten könnten offene Fragen geklärt und Missverständnisse ausgeräumt werden. Die Geschäftsordnung des Ausschusses stammt noch aus der Gründungsphase in den 70er Jahren. Vielleicht bringt die anstehende Überarbeitung positive Veränderungen, um den Dialog voranzutreiben.
ADHOC: Welche Auswirkungen hatte die personelle Neubesetzung vor einigen Jahren?
KROTH: Es war damals politischer Wille, die rein wissenschaftliche Bewertung dadurch zu unterstreichen, dass Vertreter aus der Praxis im Ausschuss kein Stimmrecht mehr haben. Fakt ist aber, dass wir auch vorher wissenschaftlich argumentiert haben. Entsprechend hat sich die rein wissenschaftliche Bewertung eigentlich nicht verändert. Wichtig ist aber, dass die Anregungen von Ärzten, Apothekern und Herstellern nach wie gehört werden.
ADHOC: Warum gibt es so wenige zentrale OTC-Switches?
KROTH: Weil dieser Weg nur bestimmten Wirkstoffen mit einem gewissen Innovationscharakter offen steht. Erschwerend kommt hinzu, dass Ablehnungsbescheid hier den Weg für ganz Europa verbaut. Nach Ansicht der EU-Kommission dürfen die Hersteller dann nämlich keine gleichlautenden Anträge in den Mitgliedstaaten mehr stellen. Also bleibt vielen Unternehmen nur der mitunter umständliche Weg, in jedem einzelnen Land einen Antrag zu stellen. Dann ist eine negative Entscheidung, die in einem Land getroffen wird, nicht so gravierend.
ADHOC: Das ist nach den Erfahrungen mit Ulipristal vielleicht auch besser so?
KROTH: Problematisch war hier nicht primär der Switch, sondern eher Folgefragen wie die Erstattungsfähigkeit für Frauen bis 20 Jahren und das Werbeverbot. Andere zentrale Switches wie Pantoprazol, Orlistat und Esomeprazol sind geräuschlos über die Bühne gegangen.
ADHOC: Wann wird es in Deutschland wieder größere Switches geben?
KROTH: Ich sehe durchaus Bereiche, die unter bestimmten Umständen für die Selbstmedikation infrage kommen. Ich gehe auch davon aus, dass es schon bald Vorstöße in neue Indikationen geben wird. Lassen Sie es mich so formulieren: Der BAH freut sich auf bahnbrechende Anträge seitens der Unternehmen.
ADHOC: Welche Indikationen kommen infrage?
KROTH: Für uns als Sachverständige stellen sich vier grundsätzliche Fragen: Sind der Wirkstoff und das konkrete Produkt für die Selbstmedikation geeignet? Diese Fragestellungen betreffen die zu erwartenden Neben- und Wechselwirkungen, aber auch die jeweilige Darreichungsform, Dosierung und Packungsgröße. Ist die Indikation für die Selbstmedikation geeignet? Hier wird geprüft, ob der Patient die Symptome richtig zuordnen kann. Und schließlich: Kommt der Patient mit der Anwendung zurecht? Hier wird beispielsweise geprüft, ob eine falsche Diagnose und damit Therapie zu einer Verschlimmerung der eigentlichen Erkrankung führt. Sind alle Antworten positiv, steht einem Switch nichts im Wege.
ADHOC: Wie wichtig sind Switches für den Markt?
KROTH: OTC-Switches sind für unseren Markt ein wichtiges Instrument für Innovationen. Es muss sich nur ein Unternehmen finden, das bereit ist, die Führungsrolle zu übernehmen. Dann folgt meist gleich eine größere Welle. Fakt ist aber auch, dass ein Switch in neuen Indikationen nur mit Unterstützung der Apotheker funktionieren kann.
Dr. Elmar Kroth hat in Bonn Chemie studiert und kam direkt nach der Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum BAH. 2010 trat er die Nachfolge von Dr. Bernd Eberwein als Geschäftsführer Wissenschaft des BAH an; seitdem ist er Mitglied im Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht.
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