Was darf in die Sichtwahl, was bleibt im Schub? Will man die Erfolgsaussichten von OTC-Switches beurteilen, müssen unterschiedliche Aspekte berücksichtigt und die wichtigsten Fachgruppen befragt werden. Zu Wort kamen auf einer Konferenz des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) Vertreter aus Politik, Pharmaindustrie und Apothekerschaft. Die „Queen of Switch“ – Dr. Natalie Gauld aus Neuseeland – schilderte eindrucksvoll die Bilderbucherfolge in ihrem Land. Denn hier profitiert auch die Industrie von drei Jahren Exklusivität – eine Wunschvorstellung für deutsche Unternehmen.
Ein OTC-Switch könne frisches Blut für die Selbstmedikation sein und moderne Therapieansätze bieten, so Dr. Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft des BAH. Zudem könnten Switches die Apothekenpflicht sichern. Er steht der Entlassung von Wirkstoffen aus der Verschreibungspflicht positiv gegenüber und betont, wie verantwortungsvoll in der Vergangenheit mit dem Thema umgegangen wurde: In den letzten 16 Jahren musste kein einziger Switch zurückgenommen werden. In Deutschland sieht Kroth noch Luft nach oben, denn mehr Stoffe könnten mehr Tiefe für die Therapie eines Indikationsgebietes liefern. Auf der anderen Seite könnten Switches für mehr Breite sorgen, wenn sich neue Indikationen in der Selbstmedikation erschließen könnten.
Vorreiter und womöglich Vorbild ist Neuseeland. Dr. Natalie Gauld ist seit mehr als 20 Jahren auf dem Gebiet aktiv, forscht und liefert neue Daten. Gauld ist Board Member of the Pharmaceutical Society of New Zealand und hat zehn bahnbrechende Projekte begleitet. Allein fünf Impfstoffe zur Injektion und einer zur oralen Gabe stehen den Patienten seitdem im Rahmen der betreuten Selbstmedikation zur Verfügung. Die Impfung nimmt der Apotheker vor Ort vor. Außerdem aus der Verschreibungspflicht entlassen wurden unter anderem Sumatriptan und Oseltamivir (2006), Zolmitriptan nasal und Calcipotriol (2010) sowie Trimethoprim und der Grippeimpfstoff (2012). Neueste Switches sind Naloxon und ausgewählte orale Kontrazeptiva.
Die Apotheker seien durchweg dafür, keiner sei dagegen, so Gauld. Die Pharmazeuten seien positiv eingestellt, weil sie die Patienten besser versorgen könnten. Für die Neuseeländerin liegt klar auf der Hand: „Die Vorteile sind größer als die Risiken.“ Apotheker würden besser eingesetzt und könnten Patienten an den Arzt verwiesen, die sich sonst nie behandeln lassen hätten. Zudem böten Apotheken einen schnelleren und zeitsparenden Zugang: Termine seien nicht nötig und die Öffnungszeiten besser. Kosten würden eingespart und die Bevölkerung profitiere. Ein Switch mache die Versorgung schneller, besser, bequemer und effizienter.
Ein OTC-Switch ist jedoch nur möglich, wenn der Hersteller diesen auch beantragt. Aber lohnt sich der Aufwand für die Unternehmen? Genießen die Produkte doch keine Exklusivität, wenn der Hersteller keine signifikanten präklinischen Daten mitliefert. Dann könne eine Exklusivität für ein Jahr zugesprochen werden. Für Dr. Tobias Mück, Head of Medical Affairs bei Sanofi, ist das kein großer Anreiz: Wer entsprechende Daten liefern wolle, müsse Millionen investieren, die binnen eines Jahres nicht wettgemacht werden könnten. Antragsteller öffneten so „Tür und Tor für Generika“. Auf diese Weise „lässt sich kein Geld verdienen“.
Beantragt ein Unternehmen einen OTC-Switch beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), vergehen im besten Fall neun Monate, bis dieser durch ist. Meist vergeht aber mehr Zeit. Nach Begutachtung und Sichtung wird eine Stellungnahme an den Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht gestellt. Dieser gibt dann eine Empfehlung für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) ab. Es folgt ein Antrag auf Änderung der Verschreibungspflicht und eine Weiterleitung an den Bundesrat, der zustimmt oder den Antrag abgeschmettert. Laut Birgit Naase, Minististerialdirigentin im BMG, wird in den meisten Fällen zugestimmt.
Mücks Team stellte im Februar 2012 einen Antrag auf OTC-Switch von Vaprino (Racecadotril). Ziel war es, den in der Verschreibungspflicht gefangenen Wirkstoff zu befreien – schien er doch mit der Indikation „akuter Durchfall“ prädestiniert dafür. Der seit 2002 im Markt befindliche Arzneistoff sollte die Therapie verbessern, denn war er Loperamid gleichwertig, ohne die Motilität zu hemmen.
Die Euphorie währte nicht lang, denn das BfArM schmetterte den Antrag ab. Immerhin zeigte die Behörde Transparenz. Ein wichtiges Thema für den BfArM-Präsidenten Professor Dr. Karl Broich. Mück erhielt zwar kein positives Votum, aber ein Mängelschreiben und einen Termin für die nächste Anhörung. Der Pharmazeut machte seine Hausaufgaben und trug den Antrag erneut vor. Insgesamt vergingen 17 Monate, bis Vaprino als OTC-Produkt auf den Markt kommen konnte. Beim Grippemittel Boxagrippal dauerte das Verfahren zwölf Monate. Die Generika ließen nicht lange auf sich warten. Mück hätte sich hier Exklusivität gewünscht.
Aktuell arbeitet Mück gerade an seinem „Meisterstück“: Die Kombination Ibuprofen und Coffein soll aus der Verschreibungspflicht entlassen werden. Das Duo ist nicht erstattungsfähig und bei mäßig starken Schmerzen indiziert. Seither ist jedoch viel Zeit vergangen. Sanofi machte vorab vom Beratungsgespräch beim BfArM Gebrauch, um gut vorbereitet in den Switch zu gehen. Trotzdem gab es am Ende kein positives Votum. Die Kombination dreht eine Extrarunde. Vielleicht heißt es Ende Juni doch noch: „Ende gut, alles gut.“
Geht es nach Fritz Becker, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes (DAV), könnten weitere OTC-Switches folgen. Wünschenswert wären zum Beispiel rezeptfreie Antibiotika zur Behandlung akuter Blasenentzündungen. In Neuseeland ist Trimethoprim bereits rezeptfrei. Auch bakterielle Bindehautentzündung und entzündliche Hauterkrankungen sollten laut Becker im Rahmen der Selbstmedikation behandelt werden. Der DAV-Chef sieht die Beratung als Königsdisziplin des Apothekers. OTC-Switches stärken die Apothekenpflicht, verbreitern die Akuttherapie und seien keine Angebotswaren.
Dass ein Switch nur zusammen mit den Apothekern erfolgreich sein kann, ist die Kernbotschaft von Professor Dr. Niels Eckstein. Der Experte hat die Switches der Pille danach und der nasalen Glucocorticoiden bewertet. Becker weiß: „Apotheker sind nicht ängstlich, aber vorsichtig.“ Er mahnt seine Kollegen zu mehr Selbstbewusstsein. Denn Switches seien sicher – bestünden Bedenken, gebe es keine Entlassung aus der Verschreibungspflicht. Patientensicherheit werde groß geschrieben. Womöglich sei das Risiko für die Patienten sogar größer, wenn ein möglicher Switch nicht vollzogen werde.
Ein Switch lohnt sich aber nicht nur für die Therapievielfalt, sondern hat auch aus ökonomische Sicht Vorteile. Professor Dr. Uwe May sieht erhebliche Kosteneinsparungen, deshalb müsse der OTC-Markt gefördert werden. May liefert Zahlen: Jeder der durchschnittlich 18 Arztbesuche pro Jahr und Patient koste im Falle einer leichten Gesundheitsstörung 75,35 Euro. Diese Erkrankung können in der Selbstmedikation behandelt werden; die Kosten beliefen sich dann auf lediglich 4,80 Euro, die der Patient selbst trage. May geht weiter: Würden jeden Tag zehn Patienten weniger zum Arzt gehen, würden zwei Stunden Arztzeit oder „hochgerechnet 7230 zusätzliche Ärzte gewonnen“. Den Kassen hat May seine Erkenntnisse bereits vorgestellt, jedoch sei die Resonanz eher verhalten.
Es gibt noch viel Luft mach oben, auch wenn Deutschland in Europa zu den führenden Ländern in puncto Switches zählt. Gauld gibt den Deutschen Tipps auf den Weg: mehr Transparenz, Exklusivität für drei Jahre und eine Einbindung der Apotheker und Ärzte in die Diskussionen. Zum Impfen in der Apotheke hat die Neuseeländerin ihre eigene Meinung: „Es ist kein Risiko es zu tun, es ist ein Risiko es nicht zu tun.“ Oder wolle man wegen möglicher Allergien auch Erdnüsse in Supermärkten verbieten?
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