Ocrevus vor EU-Zulassung Nadine Tröbitscher, 15.11.2017 12:08 Uhr
Das MS-Mittel Ocrevus (Ocrelizumab) von Roche steht kurz vor der Zulassung: Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat ein positives Votum über den monoklonalen humanisierten Antikörper abgegeben. Eine Zulassung wird durch die EU-Kommission vergeben, die in der Regel in ihrer Entscheidung den Empfehlungen folgt.
Das positive Gutachten wurde abgegeben für Patienten mit aktiver schubförmiger Multipler Sklerose (RMS), die anhand bildgebender oder klinischer Befunde bestätigt wurde, sowie Patienten mit früher primär progredienter Multipler Sklerose (PPMS) unter Berücksichtigung der Krankheitsdauer, des Grads der Behinderung und bildgebender Befunde, die auf eine entzündliche Aktivität hinweisen. Im Falle der Zulassung zur Behandlung der PPMS wäre Ocrevus das erste in der EU zugelassene Arzneimittel in dieser Indikation. Bislang konnten Betroffene mit dem Arzneimittel im Rahmen eines Compassionate-Use-Programmes behandelt werden.
Laut Gesetz können Arzneimittel, die in Deutschland keine Zulassung besitzen, im Rahmen des Härtefallprogrammes einer bestimmten Patientengruppe zur Verfügung gestellt werden – zum Beispiel wenn Patienten an einer Erkrankung leiden, die zu einer Behinderung oder gar zum Tod führen kann und nicht mit einem auf dem Markt befindlichen Medikament ausreichend behandelt werden kann.
Voraussetzung ist, dass bereits ein Zulassungsantrag bei den entsprechenden Behörden vorliegt oder Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels bereits in klinischen Studien belegt sind. Ärzte können im Rahmen des Härtefallprogrammes seit Februar für die PPMS-Patienten einen Antrag stellen. „Für Patienten ist das Härtefallprogramm kostenlos, die Entscheidung über die Teilnahme ist eine Einzelfallentscheidung in Abstimmung mit Roche und in Abhängigkeit von den lokalen Regularien und Gesetzen“, so eine Sprecherin des Pharmakonzerns.
Laut Hersteller gibt es in Europa rund 700.000 MS-Patienten, von denen die meisten zum Zeitpunkt der Diagnose an einer schubförmigen oder PPMS leiden. Das EMA-Gutachten stützt sich auf die Daten von drei Phase-III-Studien, deren Ergebnisse im „New England Journal of Medicine“ (NEJM) veröffentlicht wurden und die die Kriterien für primäre und sekundäre Endpunkte erfüllten.
Die Daten der zwei identischen Phase-III-Studien Opera I und Opera II bei schubförmiger MS kamen zu dem Ergebnis, dass Ocrevus während der zweijährigen kontrollierten Behandlungsphase wirksamer als hoch dosiertes Interferon beta-1a (Rebif) war und die Anzahl der Schübe pro Jahr um fast die Hälfte verringerte sowie das Fortschreiten der Erkrankung wesentlich verlangsamte. Außerdem erhöhte Ocrevus signifikant die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient keine Anzeichen einer Krankheitsaktivität aufwies.
In der Phase-III-Studie Oratorio mit Daten von etwa 700 PPMS-Patienten war Ocrevus das erste und einzige Medikament, das über eine mediane Nachbeobachtungsdauer von drei Jahren im Vergleich zum Placebo das Fortschreiten der Behinderung deutlich verringerte und die Anzeichen der Krankheitsaktivität im Gehirn (MRT-Läsionen) reduzierte.
Ocrelizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der sich von dem bekannten Krebs- und Rheumamittel Rituximab ableitet. Der Wirkstoff richtet sich selektiv gegen CD20-positive B-Lymphozyten. Diese speziellen Immunzellen sind vermutlich für die Schädigung der die Nervenfasern schützenden Myelinscheiden und der Axone verantwortlich. In der Folge können Behinderungen entstehen.
Ocrevus könnte diese Neurodegenerationen ausbremsen. Der Arzneistoff bindet spezifisch an CD20-positive B-Zellen und interagiert nicht mit Zellen des Immunsystems. Neue B-Zellen werden weiterhin gebildet und das Gedächtnis des Immunsystems wird nicht beeinträchtigt. Entzündungen werden dagegen unterdrückt, Schübe vermindert und die fortschreitende Behinderung verlangsamt. Das Medikament könnte nach Zulassung alle sechs Monate zu 600 mg als Infusion verabreicht werden.
In den USA, Kanada, Australien, der Schweiz sowie in mehreren Ländern Südamerikas, des Nahen Ostens und Osteuropas ist Ocrevus bereits zugelassen. Roche zufolge wurden bereits rund 20.000 Menschen mit dem Medikament behandelt. Hergestellt wird das Arzneimittel biotechnologisch in den USA. Die Abfüllung für den globalen Markt erfolgt am Standort Mannheim.