Zappelphilipp-Syndrom

Neue Leitlinie ADHS

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Berlin -

Ist ein Kind nur etwas hibbelig und unkonzentriert – oder leidet es an ADHS – dem Zappelphilipp-Syndrom? Diese Frage zu entscheiden, ist selbst für Experten nicht einfach. Eine neue Leitlinie soll helfen. Medikamente spielen darin eine prominente Rolle.

„Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?“, fragt sich der Vater vom Zappel-Philipp zu Beginn des berühmten Gedichts von Heinrich Hoffmann. Er wird enttäuscht werden: Philipp zappelt und kippelt mit dem Stuhl bis er fällt, reißt das Tischtuch mit sich, das Abendessen ist dahin. „Suppenschüssel ist entzwei, und die Eltern stehn dabei. Beide sind gar zornig sehr, haben nichts zu essen mehr.“

Heute wird das Gedicht oft als Beschreibung eines Kindes mit ADHS gelesen, einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder eben dem Zappelphilipp-Syndrom. Das Zappeln ist allerdings nur ein Anzeichen von vielen, die die neuropsychologische Störung kennzeichnen. ADHS-Betroffene sind oft unaufmerksam, können sich schlecht konzentrieren und ihre Gefühle nur schwer kontrollieren. Die genauen Ursachen sind unklar, Fachleute vermuten sowohl genetische als auch Umwelteinflüsse. Die Störung zieht häufig Schwierigkeiten in der Schule, in der Familie und im sonstigen sozialen Umfeld nach sich. Auch Erwachsene können noch unter ADHS leiden.

Wie stark welche Symptome bei einzelnen Patienten auftreten, ist sehr unterschiedlich. Auch deshalb sind Diagnose und Behandlung von ADHS kompliziert. Nun haben Fachleute eine neue Leitlinie vorgestellt, die Ärzten aktualisierte Empfehlungen für die Betreuung von ADHS-Patienten an die Hand gibt.

Künftig wird es keine Unterteilung in Altersgruppen mehr geben. Die S3-Leitline gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Eine der wesentlichen Neuerungen: Künftig sollen auch für Kinder mit einer mittelschweren ADHS früh im Therapieverlauf Medikamente wie Methylphenidat erwogen werden. Der Arzneistoff soll die ADHS-Symptome lindern. Bisher wurde eine unmittelbare Behandlung mit Medikamenten vorrangig für Kinder mit einer starken Ausprägung der psychischen Störung empfohlen.

„Die Auswertung der aktuellen Datenlage hat gezeigt, dass die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie auf die Kernsymptome der ADHS nicht sicher belegt ist, in der Praxis die Symptomatik häufig nicht ausreichend gebessert wird“, erläutert Professor Dr. Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Stellvertretende Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hat die Erstellung der Leitlinie, an der Vertreter von mehr als 30 Fachgesellschaften und -verbänden beteiligt waren, koordiniert.

Für ADHS-Patienten und ihre Familien wird sich mit der neuen Leitlinie wenig ändern, weil viele Mediziner ohnehin schon Medikamente für die weniger stark Betroffenen verschreiben. Die explizite Ausweitung der medikamentösen ADHS-Behandlung dürfte dennoch manchen Kritiker auf den Plan rufen. Einige Fachleute fürchten, dass die Medikamente zu häufig verordnet werden. Zumindest bei einem Teil der Kinder seien Überforderung und Stress oder andere Erkrankungen für bestehende Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich, teils seien sie im Rahmen der kindlichen Entwicklung normal.

Schaut man auf die Zahlen, hat zumindest in den vergangenen zehn Jahren die Verschreibung von ADHS-Medikamenten in Deutschland nicht generell zugenommen. Seit 2012 sind die verordneten Tagesdosen für Methylphenidat – dem Wirkstoff von Ritalin – rückläufig, wie Daten zu den von niedergelassenen Ärzten verordneten und über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechneten Arzneimittel zeigen.

Neben Methylphenidat stehen vier weitere Wirkstoffe für die Behandlung zur Verfügung: Dexamfetamin (Attentin, Medice), Lisdexamfetamin (Elvanse, Shire) unterliegen wie Methylphenidat der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Atomexetin (Strattera, Lilly) und Guanfacin (Intuniv, Shire) sind weitere Optionen.

Methylphenidat gehört zu den Amphetamin-ähnlichen Substanzen. Der Arzneistoff wirkt stimulierend im zentralen Nervensystem, der genaue Wirkmechanismus ist bislang nicht bekannt. Wahrscheinlich hemmt Methylphenidat, ähnlich wie Amphetamin, die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin im synaptischen Spalt und erhöht so die Konzentrationsfähigkeit. Auf den Wirkstoff entfallen im Jahr 2016 die meisten verordneten Tagesdosen (DDD). Laut Arzneimittelverordnungsreport entfielen auf Methylphenidat etwa 51 Millionen DDD. Dahinter liegen Lisdexamfetamin (8,3 Millionen DDD) und Atomoxetin (2,1 Millionen DDD), das die Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmt. Guanfacin und Dexamfetamin spielen mit etwa 430.000 beziehungsweise 310.000 nur eine untergeordnete Rolle.

Mittel der Wahl ist Methylphenidat. Die Amfetamin-Derivate zählen als Mittel der zweiten Wahl, wenn Methylphenidat versagt hat. Guanfacin, das dem Sympathotonus senkt, kommt erst zum Einsatz, wenn ein Behandlungsversuch mit einem Stimulanz ohne Behandlungserfolg blieb oder nicht angezeigt ist. Das Arzneimittel kann bei Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 17 Jahren verordnet werden.

Die medikamentöse Therapie ist laut Leitlinie für Patienten mit mittelschwerer AHDS angezeigt – allein oder in Kombination mit psychosozialen Methoden. Die Experten weisen in dem Papier darauf hin, retardierte Arzneiformen verschiedener Hersteller aufgrund einer unterschiedlichen Freisetzung des Wirkstoffes nicht gegeneinander auszutauschen. Viele behandelnde Ärzte und Therapeuten halten eine generelle Ablehnung einer medikamentösen Behandlung für falsch. „Ich würde es quasi als Kunstfehler ansehen, ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten“, sagt etwa Ralph Schliewenz, Diplom-Psychologe aus Soest und Mitglied im Vorstand der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Allerdings: „Keine Medikation ohne begleitende Psychotherapie“, betont Schliewenz. „Medikamente wirken immer nur so lange, wie man sie nimmt. Sie allein können die mit ADHS einhergehenden Probleme nicht beseitigen. Eine Verhaltenstherapie hilft dabei.“

Auch an der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen werden ADHS-Patienten in einem umfassenden Behandlungsplan therapiert. „Eine reine Medikamententherapie gibt es bei uns nicht“, sagt Dr. Tobias Renner, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Diese Praxis bildet auch die neue Leitlinie ab. Eine Verhaltenstherapie werde weiterhin begleitend bei allen Schweregraden der ADHS empfohlen, sagt Banaschewski. Auch der Psychoedukation, die Betroffenen und Eltern Strategien für den Umgang mit ADHS vermitteln soll, werde nach wie vor ein hoher Stellenwert eingeräumt: Sie soll Bestandteil jedes Behandlungsplans sein.

Einstimmig betonen die Experten die Notwendigkeit von ausgesprochener Sorgfalt schon bei der Diagnose der ADHS. „Die Diagnose sollte etwa ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen oder ein speziell dafür ausgebildeter Kinderarzt“, sagt Renner.

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