Zweite Chance für Pridinol Nadine Tröbitscher, 01.11.2016 09:03 Uhr
Entspannung, Wärmetherapie, Massagen und pflanzliche Mittel können Verspannungen lindern. Ist ihre Wirkung nicht ausreichend, kommen verschreibungspflichtige Medikamente zum Einsatz. In den vergangenen Jahren hat sich das Angebot reduziert: Zulassungen sind erloschen, Indikationen wurden gestrichen. Ein Wirkstoff soll nun aus seinem Dornröschenschlaf geweckt werden.
Zur Zeit stehen verschiedene zentral wirksame Muskelrelaxantien zur Verfügung. Sirdalud (Tizanidin), Ortoton/DoloVisano (Methocarbamol) und das generische Baclofen sind als Tabletten auf Rezept erhältlich. Seit April 2015 ist das Chinin-haltige Limptar verschreibungspflichtig. Tetrazepam verschwand wegen Sicherheitsbedenken komplett aus den Apotheken.
Der 1994 in Deutschland eingeführte Wirkstoff Tolperison wurde in seiner Indikation beschnitten: Der erste Natriumkanalblocker darf nur noch „zur Behandlung einer krankhaft erhöhten Spannung der Skelettmuskulatur nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen“ angewendet werden. 2013 wurde dem Wirkstoff die Indikation „bei schmerzhaften Muskelverspannungen, insbesondere als Folge von Erkrankungen der Wirbelsäule und der achsennahen Gelenke“ entzogen. Nutzen und Risiko stünden auf Grund von Hautreaktionen in keinem Verhältnis, so das Argument.
Tolperison war lange Jahre neben Tetrazepam von Bedeutung in der Behandlung von Verspannungen. Erste Umsatzeinbrüche gab es beim Original Mydocalm, als Generika auf den Markt kamen. Der Hersteller Strathmann aus Hamburg konnte zwar 2010 und 2013 noch Rabattverträge schließen, jedoch folgte nach der Indikationsbeschränkung ein weiterer Einbruch.
In der Schublade von Strathmann schlummerte aber noch ein Schätzchen, das lange Zeit stiefmütterlich behandelt wurde. Der zentral wirksame Muskelrelaxans Pridinol kam 1998 unter dem Namen Myoson-direkt auf den Markt – der Wirkstoff könnte die Mydocalm-Lücke schließen.
Myoson-direkt hatte es nicht durch die Nachzulassung geschafft; Strathmann kämpfte zwar um das Präparat; da es als fiktives Arzneimittel aber nicht erstattungsfähig war, verlor es in den vergangenen Jahren massiv an Bedeutung. Im August nahm Strathmann Myoson-direkt komplett vom Markt. Der Kampf gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) war aussichtslos geworden.
Parallel hatte man in Hamburg aber bereits an einer Neuzulassung für Pridinol gearbeitet. Im August kam unter dem Namen Myopridin eine Injektionslösung auf den Markt, die entsprechend von den Krankenkassen übernommen werden kann. Strathmann hofft auf eine Zulassung der Pridinol-haltigen Tabletten im ersten Halbjahr 2017. Noch seien nicht alle nötigen Unterlagen komplett, aber in den kommenden Wochen soll ein entsprechender Antrag eingereicht werden.
Pridinol löst Muskelkrämpfe unterschiedlicher Ursachen, nächtliche Wadenkrämpfe und Halsmuskelverspannungen können gelindert werden. Der Wirkstoff kommt zudem zur Vorbereitung und Unterstützung physikalisch-therapeutischer Maßnahmen in Betracht. Pridinol blockiert Acetycholin-Rezeptoren und verhindert so die Muskelkontraktion. Die Muskelspannung sinkt, die Muskulatur lockert sich.
Laut Arzneiverordnungsreport ist Methocarbamol mit 16 Millionen Tagesdosen (DDD) das am häufigsten eingesetzte Muskelrelaxans. Tolperison kam auf 9 Millionen DDD, wobei nur 0,9 Millionen DDD auf Mydocalm entfallen. Chinin kommt auf 7 Millionen DDD, das jetzt neu zum Leben erweckte Pridinol auf 350.000 DDD.
Wegen der Einschränkungen hat sich der Markt stark verändert: 2012 kam Tolperison noch auf 16 Millionen DDD, auch Tetrazepam war noch im Handel und mit 22 Millionen DDD das Mittel der Wahl. Methocarbamol, damals noch bei 4 Millionen DDD, ist der Gewinner des regulatorischen Kahlschlags.
Rückenschmerzen und Verspannungen gehören laut einer Umfrage aus dem Jahr 2015 zu den häufigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen: 53 Prozent der Teilnehmer klagen über entsprechende Einschränkungen. Stress erhöht den Muskeltonus und verursacht somit Verspannungen; Schmerzen im Nacken-Schulter-Bereich sind wahrnehmbare Anzeichen. Zum Vergleich: 31 Prozent klagten über Erschöpfung und 26 Prozent über Erkältungskrankheiten. 20 Prozent der Befragten fühlen sich von Schlafstörungen beeinträchtigt. Magen-Darm-Beschwerden liegen mit 12 Prozent dahinter.