Dolo Visano ist rehabilitiert Patrick Hollstein, 24.02.2016 07:57 Uhr
In den vergangenen zwei Jahren wurde der Markt der Muskelrelaxantien auf den Kopf gestellt. Tetrazepam verschwand wegen Sicherheitsbedenken komplett aus den Apotheken, Tolperison hat ebenfalls massiv an Bedeutung verloren. Umso wichtiger ist Methocarbamol geworden. Der Originalhersteller Recordati konnte den Konkurrenten Dr. Kade vor einem Jahr stoppen. Jetzt meldet sich der Angreifer zurück.
Recordati hat Ortoton auf dem Markt; das Präparat wurde 2008 von den Bastian-Werken gekauft. DoloVisano von Dr. Kade wurde zunächst mit dem Wirkstoff Mephenesin vertrieben, einem klassischen Muskelrelaxans mit Gefahr von Abhängigkeit und Überdosierung. Im August 2008 erhielt der Berliner Hersteller vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ebenfalls eine Zulassung für die Variante mit Methocarbamol.
Zunächst kam Dolo Visano als Generikum zu Ortoton auf den Markt; als sich der Originalhersteller unter Verweis auf den Unterlagenschutz erfolgreich wehrte, erwirkte Dr. Kade parallel eine Zulassung auf der Grundlage eines bibliographischen Antrags. Da allerdings auch hier auf Unterlagen von Recordati Bezug genommen wurde, legte der Konkurrent aus Ulm abermals Widerspruch ein. Im Sommer 2014 hob das BfArM die Zulassung wieder auf.
Anfang 2015 verschwand Dolo Visano vom Markt. Kurz zuvor hatte das Verwaltungsgericht Köln den sofortigen Vollzug des Widerspruchsbescheids angeordnet; im April 2015 bestätigte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG) die Entscheidung. Doch im August war Dr. Kade wieder zur Stelle: Am 9. September ende der Unterlagenschutz für das Original; entsprechend sei die Zulassung wiederherzustellen, so das Argument.
Ende Januar gab das VG dem Hersteller in der zweiten Runde recht. Die Richter verwiesen auf das Baurecht, wonach eine bei Erlass rechtswidrige Baugenehmigung nicht aufgehoben werden muss, wenn sie wegen zwischenzeitlich ergangener Rechtsänderungen sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste.
Ähnlich sei es bei der Anfechtung von Zulassungsentscheidungen durch Dritte: „Es wäre […] nicht verhältnismäßig, die Aufhebung einer rechtswidrigen Zulassung in einem Drittwiderspruchsverfahren gerichtlich zu bestätigen, wenn wegen einer Änderung der Sach- oder Rechtslage feststeht, dass die Zulassung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtskonform ist, weil sie nicht mehr gegen Rechte des Dritten verstößt“, so das VG. Dies gelte umso mehr wegen des erheblichen zeitlichen und finanziellen Aufwands eines neuen Antrags sowie gegebenenfalls gestiegener Anforderungen und weiterreichender Versagungsgründe.
BfArM und Recordati hatten argumentiert, die Rechtsprechung aus dem Baurecht sei nicht übertragbar; denn der Makel der rechtswidrigen Erteilung hafte der Zulassung auch dann noch an, wenn die Unterlagenschutzfrist abgelaufen sei. Dem folgten die Richter nicht: Die Zulassung sei nur deswegen rechtswidrig gewesen, weil sie innerhalb der Unterlagenschutzfrist erteilt wurde. Antragstellung und Bearbeitung vor Fristablauf seien dagegen nicht verboten. „Daher gibt es auch kein korrespondierendes Recht des Erstantragstellers, die Verletzung einer Antragsfrist nach Ablauf des Schutzzeitraums noch geltend zu machen.“
Der Aufhebungsbescheid sei auch nicht als echte Rücknahme einer Zulassung zu werten, wie sie bei überholten oder unvollständigen Zulassungsunterlagen vorgesehen sei. Schließlich wurde darüber gestritten, ob im Rahmen des bibliografischen Antrags der Verweis auf eine Broschüre des Originalherstellers inhaltlich ausreichend sei, um die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels zu beurteilen. Laut VG hätte das BfArM in seinem Entscheid darlegen müssen, welche Mängel in der Broschüre die Beurteilung der Studienergebnisse nicht zuließen. Dies sei aber nicht geschehen.
Auch eine angebliche Absprache innerhalb der Arbeitsgruppe für das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und das dezentralisierte Verfahren (CMDh), nur noch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften als bibliographisches Erkenntnismaterial zu akzeptieren, sei nicht rechtsverbindlich, solange sie keinen Eingang in Richt- oder Leitlinien gefunden habe. Im Übrigen seien auch Publikationen in Fachzeitschriften üblicherweise nur eine Zusammenfassung von Studiendesign, Studienverlauf und Studienergebnissen.
Unter den Muskelrelaxantien hat laut Arzneiverordnungsreport Botulinumtoxin mit 55 Millionen Tagestherapiedosen (DDD) die Nase vorn. Dahinter folgte bis zum Widerruf der Zulassung im Sommer 2014 Tetrazepam mit 22,7 Millionen DDD. Baclofen und Tolpesiron kamen 2011 noch auf 17 Millionen DDD; während der GABA-Agonist 2014 auf 19,1 Millionen DDD zulegte, sank Tolperison wegen Einschränkungen der Indikation auf 10,6 Millionen DDD.
Ortoton legte im selben Zeitraum von 2,7 auf 10,7 Millionen DDD zu, Dolo Visano von 0,9 auf 4,4 Millionen DDD. Nach dem Vertriebsstopp für das Konkurrenzprodukt dürfte das Original von Recordati weiter gewachsen sein. Tizanidin kommt auf 5,9 Millionen DDD, Dantrolen auf 0,8 Millionen DDD. Beim Schmerzmittel Flupirtin, das ebenfalls muskelrelaxierend wirkt, ist nach Einschränkungen bei der Anwendungsdauer von 28,1 auf 10,7 Millionen DDD eingebrochen.
Muskelrelaxantien werden unter anderem bei Multipler Sklerose (MS) eingesetzt. Exklusiv für diesen Bereich zugelassen sind der Kaliumkanalblocker Fampridin (4 Millionen DDD) und der Cannabis-Dickextrakt Nabiximol (0,6 Millionen DDD), der unter dem Handelsnamen Sativex vermarket wird.