MS-Medikament

Forscher: Wirkungslücke bei Tysabri

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Berlin -

Bei dem Multiple-Sklerose-Medikament Tysabri (Natalizumab) sind seit langem schwere Nebenwirkungen bekannt. Forscher der Universitätsklinik für Allgemeine Neurologie in Münster haben jetzt den Grund dafür herausgefunden: eine Wirkungslücke. Diese Entdeckung könnte die Therapie von Multiple Sklerose (MS) und anderen Autoimmunerkrankungen entscheidend verbessern, so die Wissenschaftler.

Bei der Autoimmunerkrankung MS wandern Immunzellen ins Gehirn ein und zerstören dort Gewebe. Bis jetzt gingen Ärzte davon aus, dass eine Behandlung mit dem Wirkstoff Natalizumab das verhindern kann. Laut der aktuellen Studie sorgt aber das Adhäsionsmolekül MCAM dafür, dass bei manchen Patienten dennoch schädigende Zellen ins Gehirn gelangen.

Das Team unter der Leitung des Direktors der Klinik für Allgemeine Neurologie, Professor Dr. Heinz Wiendl, untersuchte Blut und Nervenwasser von Patienten, die mit dem Medikament auf Basis des Antikörpers Natalizumab behandelt worden waren. Normalerweise wirkt das Arzneimittel, indem es das Eindringen schädlicher T-Zellen ins Gehirn über die Blut-Hirn-Schranke verhindert.

„Natalizumab blockiert gewissermaßen den Schlüssel für den 'Durchgang', das Antigen VLA-4“, so Wiendl. In den Patientenproben fanden die Wissenschaftler aber doch eine nennenswerte Anzahl der für das Gehirn so gefährlichen T-Zellen. „Auf diesen lagerte allerdings kein VLA-4-Antigen“, sagte Co-Projektleiter Dr. Nicholas Schwab. Offenbar konnten also T-Zellen deshalb ins Gehirn eindringen, weil sie keine Angriffsfläche für Natalizumab boten.

Bei ihrer Suche nach einer Erklärung stießen die Wissenschaftler in den Patientenproben auf eine ungewöhnlich hohe Anzahl der Adhäsionsmoleküle MCAM. „Dieses Molekül hilft den T-Zellen offenbar dabei, sich an die Blut-Hirn-Schranke anzuheften und sie dann auch zu durchdringen“, erklärt Wiendl.

Diese bislang nicht bekannte Wirkung von MCAM könnte erklären, dass Patienten, die Natalizumab absetzen, oft unter besonders schweren MS-Schüben leiden. Die Wissenschaftler machen das Molekül MCAM für diese Schübe mitverantwortlich.

Da Natalizumab die VLA-4-tragenden T-Zellen effektiv blockiere, seien die Patienten unter Therapie oft frei von Schüben und fortschreitenden körperlichen Einschränkungen. T-Zellen, die es schafften, diesen Schutz zu unterlaufen, könnten im Gehirn und im Rückenmark kaum wirken. Werde das Präparat aber abgesetzt, könnten die verschiedenen T-Zell-Arten gemeinsam umso stärkeren Schaden anrichten.

Als die Wissenschaftler versuchsweise gleichzeitig VLA-4 und MCAM blockierten, gelangten keinerlei schädliche Zellen mehr ins Zentrale Nervensystem. „Dies könnte ein Ansatz zur Entwicklung neuartiger und noch effektiverer Therapien für MS-Patienten sein“, so Schwab.

Zudem könnten die jüngsten Studien des MS-Forschungsverbunds auch zum besseren Verständnis weiterer entzündlicher Erkrankungen des Nervensystems beitragen. „Erkrankungen wie die Sehnerventzündung Neuromyelitis Optica, bei denen das Natalizumab-Medikament nicht wirkt, könnten endlich besser erklärt und behandelt werden“, so Projektmitarbeiter Dr. Tilman Schneider-Hohendorf. Wie sich die Erkenntnisse in die Praxis umsetzen lassen, muss nun in weiteren Versuchen geklärt werden.

Das Natalizumab-Präparat kann, allein eingesetzt, zu schweren Nebenwirkungen führen, da es das Immunsystem schwächt. „Würden zusätzlich auch noch andere Moleküle ausgeschaltet, die die schützende Immunreaktion steuern, sind die Folgen für das Immunsystem noch nicht abzusehen“, sagt Wiendl. Daher gelte es nun für die Forscher, ihre überraschende Erkenntnis näher zu untersuchen. Die Studie erschien im „Journal of Experimental Medicine“.

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