Das Wintersemester hat begonnen, auch für die Pharmaziestudenten in Berlin. Die Erstsemestler eilen in den zweiten Stock ihres Instituts an der Freien Universität (FU). Der Hörsaal füllt sich. Rund 80 angehende Apotheker nehmen an der Einführungsveranstaltung teil. Professor Dr. Jörg Rademann weiht die jungen Menschen gemeinsam mit Dr. Ursula Brümmer in die Welt der Chemie ein. Anorganik und Organik werden in den ersten vier Semestern Hauptbestandteil der Lehre sein.
Nach einem allgemeinen Überblick macht Rademann zunächst auf den Anteil der Chemie im Pharmaziestudium aufmerksam: 46 Prozent der Stunden sind vom ersten bis zum achten Semester dafür reserviert. Im Hörsaal bleibt es ruhig, allerdings macht sich Missmut unter den Studenten bemerkbar. „Chemie ist nichts, vor dem Sie Angst haben sollten“, beruhigt Rademann, der Professor für Pharmazeutische und Medizinische Chemie ist.
Er versucht, den Studenten die Bedeutung dieses Fachs für die Pharmazie schmackhaft zu machen. Vom Massenwirkungsgesetz zum Rezeptorbegriff, von der Arzneistoffbindung zur Wirkstoffentwicklung: Alles basiere auf Chemie! Die Menge des Lernstoffs zu bewältigen, sei mit „harter Arbeit“ verbunden, räumt er ein. An Lerntipps spart er nicht: „Zeichnen Sie viel“, sagt Rademann. „Graphen, Moleküle, Gleichungen.“ „Der Stoff geht viel intensiver in Ihren Kopf, als wenn Sie sich nur Folien anschauen.“ Diese Lerntechnik führe zu einem guten Erinnerungsvermögen und zu einer guten Reproduzierbarkeit. Experimente sollten immer mit den theoretischen Grundlagen verbunden werden: „Die Wechselwirkung zwischen Praxis und Theorie ist Voraussetzung, um die Chemie zu verstehen.“
Die jungen Frauen und Männer im Hörsaal bekommen auch eine Einführung in die Geschichte. Beispielsweise wissen sie nun, dass das erste Arzneibuch der Welt auf den griechischen Arzt Pedanios Dioscurides zurückgeht. „Es war der Vorläufer der aktuellen deutschen und europäischen Arzneibücher“, erklärt Rademann. Auch stellt er berühmte Apotheker vor, die zur Entwicklung der modernen Chemie beitrugen: Es fallen Namen wie Friedrich Sertürner oder Martin Heinrich Klapproth. Im Foyer des Institus steht eine überlebensgroße Büste von Apotheker Hermann Thoms. Der Gründer des Pharmazeutischen Instituts in Berlin gilt auch als „Vater“ der wissenschaftlichen Pharmazie.
Rademann bringt den angehenden Apothekern die Bedeutung der Wissenschaft für die Pharmazie immer wieder nahe. „Wir würden uns freuen, wenn wir Sie im Anschluss des Pharmaziestudiums im Masterstudiengang ‚Pharmazeutische Forschung‘ begrüßen können“, greift er weit voraus. Die FU Berlin bietet das Fach bundesweit als einzige Hochschule an. Für die Erstis dürfte das Thema noch weit weg sein.
Brümmer stellte den Stundenplan vor, der in den Reihen zu verdutzten Gesichtsausdrücken führte. Unschwer ist am Plan der Dozentin und Praktikumsleiterin zu erkennen, dass kaum Freizeit in Sicht ist. Während man in anderen Studiengängen seine gewünschten Module weitgehend frei zusammenstellen könne, sei das bei Pharmazie unmöglich, weiß auch Brümmer. Sie empfiehlt den Studenten, das verschulte System positiv zu sehen: „Das erleichtert Euch so Einiges!“ Und: „Man kann jeden Tag abhaken“, sagt Brümmer. Den Lacher hat sie.
Sie kritisiert, dass Arzneimittelwirkungen oft in der Medizin angesiedelt werden würden. „Das ist falsch“, widerspricht sie. „Die Wirkung von Arzneimitteln hat etwas mit Chemie zu tun. Das sind chemische Reaktionen, die im Körper stattfinden.“ Auch sie ist bemüht, den angehenden Apothekern den Sinn des großen Anteils der Chemie im Studium zu erkären. Wichtig sei, dass man anhand funktioneller Gruppen die Substanzen kategorisieren könne, beispielsweise um eine schlaffördernde Wirkung zu erkennen. „Am Ende des Studiums muss man mit Arzneistoffen reden“, sagt sie. „Die Sprache ist Chemie.“
Soweit ist es noch nicht. Im ersten Semester kommen auf die Studenten Prüfungen in Chemie, Mathematik und Terminologie zu. Schon nach sechs Wochen findet die erste Klausur statt. Dass Pharmazie kein Zuckerschlecken wird, merken die Studenten spätestens in den Anforderungen der Scheinausstellung im Fach Chemie: „Praktikum mit zehn Analysen, drei Klausuren und eine mündliche Prüfung – und am Ende bekommt man nur einen Schein“, erklärt Brümmer. Solche Ausführungen lassen jedem Ersti das Blut in den Adern gefrieren.
Doch die Wahrheit schreckt nicht alle Studenten ab. Die gebürtiger Berlinerin Fia Becker ist eine der Studentinnen im Hörsaal. „Man bekommt immer eingeredet, dass es so schwer ist. Die vor uns haben es ja auch geschafft“, sagt die 19-Jährige ehrgeizig. Den Aufnahmetest für Pharmazeuten, der hauptsächlich Chemiewissen überprüfe, habe sie auch geschafft – auch wenn sie das Fach nach der zehnten Klasse abgewählt hatte. „Das Studium stelle ich mir sehr anspruchsvoll vor“, so Fia. „Es ist aber machbar.“
Um ihrem naturwissenschaftlichen Interesse nachzugehen, habe sie sich für Pharmazie entschieden. Medizin kam für sie nicht infrage: „Ich könnte niemals eine Leiche aufschneiden.“ Besonders gefällt ihr an ihrem angestrebten Beruf, dass er einen „Sinn und Zweck“ hat und dass man „mit einem bestimmten Ziel im Labor steht“. Man helfe letztendlich Menschen, ihre Krankheiten zu bekämpfen und Beschwerden zu lindern. Ihr großer Traum sei es, nach dem Studium in einer Krankenhausapotheke tätig zu werden. „Man hat als Apotheker viele Möglichkeiten. Das muss man ausnutzen.“
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