Migräne: Viele Patienten sind unterversorgt APOTHEKE ADHOC, 02.07.2020 15:01 Uhr
Dank vielseitiger Forschung nehmen die Therapiemöglichkeiten für Migräne stetig zu. Die „Overcome-Studie“ des Herstellers Lilly zeigt allerdings, dass viele Menschen mit Migräne keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen oder vorbeugende Medikamente anwenden. Dies hebe die Notwendigkeit einer Verbesserung der Migränebehandlung hervor, erklärte der Konzern in einer Pressemitteilung.
Mithilfe der „Overcome-Studie“ sollen Belastungen, Stigmata und Barrieren von Migräne-Patienten besser erforscht und gelöst werden. Die nun auf dem Jahrestreffen der American Headache Society veröffentlichten Daten der Beobachtungsstudie stammen aus der ersten Kohorte: Die Angaben von mehr als 21.000 Menschen mit Migräne wurden dabei erfasst.
Nur starke Kopfschmerzen oder doch Migräne?
„Für Millionen von Menschen mit Migräne ist der Weg zu einem geeigneten Behandlungsprogramm mit Lücken behaftet", sagte Susan Hutchinson vom Migräne- und Kopfschmerzzentrum von Orange County und wissenschaftliche Beraterin der Studie. „Es gibt eine Vielzahl von Gründen – aber es beginnt mit der Tatsache, dass viele möglicherweise nicht erkennen, dass es sich bei ihnen um eine Migräne handelt und nicht nur um ‚schlimme Kopfschmerzen‘.“ Indem das Verständnis für Migräne – sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei Gesundheitsdienstleistern – verbessert werde, könnten auch die Chancen steigen, dass Menschen mit Migräne den wichtigen Schritt unternehmen, eine Diagnose und damit letztendlich eine angemessene Behandlung zu erhalten.
Bei der Studie wurde unter anderem die sogenannte „Migraine Disability Assessment“-Skala (MIDAS) verwendet, durch die drei wichtige Schritte im Migräne-Management dokumentiert werden: Neben einer aktiv in Anspruch genommenen medizinischen Versorgung von einem Facharzt, machen Patienten Angaben zu einer gestellten Migränediagnose und der Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten. Durch diese Angaben sollte ermittelt werden, wie viele Befragte die drei Schritte bereits abgeschlossen und damit eine angemessene Versorgung erhalten haben.
Bewusstsein für Migräne schaffen
Das Ergebnis: Unter den Befragten, die vier oder mehr Kopfschmerztage pro Monat mit mittelschwerer oder schwerer Einschränkung haben, hatten 69 Prozent bereits medizinische Hilfe in Anspruch genommen. 79 Prozent von ihnen erhielten eine bestätigte Migräne-Diagnose. Allerdings nahmen nur 28 Prozent ein vorbeugendes Medikament gegen die Migräne ein. Insgesamt hatten nur etwa 15 Prozent die drei Schritte für eine angemessene Versorgung bereits erfüllt.
„Selbst angesichts der jüngsten neuen Behandlungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Migräne stehen wir immer noch vor einem harten Kampf, da zu viele weiterhin unterversorgt sind", sagte Dr. Robert E. Shapiro von der Abteilung für Neurologische Wissenschaften des Larner College of Medicine der Universität Vermont und wissenschaftlicher Berater der Studie. Ein wichtiger Aspekt der Migränebehandlung sei das Stigma, das viele mit der Krankheit verbinden: Viele Menschen seien zurückhaltend bei der Suche nach medizinischer Hilfe oder der Einnahme von Medikamenten, da sie Angst hätten, wie andere sie dafür sehen könnten.
„Die Overcome-Studie bietet einen Überblick über den aktuellen Migränezustand in Amerika und erinnert uns daran, dass noch viel zu tun ist", sagte Dr. Eric Pearlman, leitender medizinischer Direktor der US-amerikanischen Neurowissenschaften bei Lilly. „Wir befinden uns in einer goldenen Ära der Migränebehandlung mit der Einführung neuer therapeutischer Optionen – sowohl für die akute als auch für die vorbeugende Behandlung der Krankheit.“ Wichtig sei jedoch zudem die Notwendigkeit einer besseren Aufklärung, weniger Stigmatisierung und eines verbesserten Zugangs zur Versorgung.
Neue Wirkstoffe für die Akutbehandlung
Im Bereich Migräne wird daher vielseitig geforscht, sodass sich das Therapiespektrum in den vergangenen Jahren deutlich erweitert hat: Vor allem im Bereich der Prophylaxe stehen mittlerweile verschiedene Antikörper zur Verfügung, die helfen sollen, die Anfallshäufigkeit zu reduzieren. Bei der Akuttherapie von schweren Migräneattacken sieht es anders aus: Bisher werden meist Triptane verwendet. Auf der auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie wurden im vergangenen Herbst jedoch neue Therapieoptionen für Patienten vorgestellt, bei denen die Einnahme von Triptanen kontraindiziert ist.
Die neuen Optionen besitzen keine gefäßverengende Wirkung und stellen somit eine wirksame Therapieoption dar. Die beiden Substanzklassen der „Ditane“ und der „Gepante“ wurden speziell entwickelt und befinden sich derzeit in der klinischen Prüfung. Ein Vertreter der „Ditane“ ist der Wirkstoff Lasmiditan: Die Substanz bindet ebenso wie die Triptane an den 5 HT1F-Rezeptor, hat aber keine vasokonstriktiven Eigenschaften. In zwei großen Phase-III-Studien konnte sich der Wirkstoff schon beweisen: Er war besser wirksam in der Akuttherapie eines Migräneanfalls als Placebo. Jedoch kann es unter der Behandlung zu zentralen Nebenwirkungen wie Benommenheit, Müdigkeit und Schwindel kommen.
Die Pathophysiologie der Migräne ist nicht nur durch eine Erweiterung der Hirnhautgefäße, eine erhöhte Trigenimus-Aktivität und aseptische Entzündungsreaktionen gekennzeichnet. Ebenfalls kommt es zur Freisetzung von Substanz P und dem Calcitonin-Gene-Related Peptide (CGRP): Das Neuropeptid wird zentral freigesetzt und gilt als starker Vasodilataor und Trigger für Entzündungen. Bei einer Migräne ist zu viel CGRP vorhanden.
Ein weiterer Ansatz sind daher Antagonisten am CGRP-Rezeptor, die sogenannten „Gepante“: In größeren randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien zur Behandlung akuter Migräneattacken wurden die Wirkstoffe Ubrogepant und Rimegepant untersucht. Beide sind wirksamer als Placebo und haben im Gegensatz zu Lasmiditan nur geringe Nebenwirkungen. Bisher gibt es noch keine direkten Vergleichsstudien mit Triptanen. Im Januar wurde der erste Vertreter der „Gepante“ bereits von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen: Ubrelvy (Ubrogepant, Allergan) ist das erste Medikament in der Klasse der oralen Antagonisten am Calcitonin-Gene-Related Peptide (CGRP) das für die sofortige Behandlung von Migräne mit oder ohne Aura geeignet ist. Vorbeugend kann der Wirkstoff jedoch nicht angewendet werden.