Ende 2019 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung in Bezug auf den Wirkstoff Botulinumtoxin A und B angepasst. Dementsprechend ist der Stoff bei chronsicher Migräne indiziert, wenn zwei orale Therapien gescheitert sind. Erst bei Versagen des neurotoxischen Proteins sollte innerhalb der Eskalationstherapie auf eine Antikörper-Therapie zurückgegriffen werden.
Das Präparat Botox von Allergan besitzt mehrere Indikationen, darunter seit 2001 auch die Behandlung der chronischen Migräne. Um die Kriterien einer chronischen Migräne zu erfüllen, muss der Betroffene über mindestens 15 Tagen im Monat unter Kopfschmerzen leiden. Acht davon müssen Migräne sein. Als Voraussetzung für eine Botox-Therapie zählt des weiteren das unzureichende Ansprechen auf prophylaktische Migräne-Medikationen. Gerade in den letzten zwei Jahren rückten jedoch vermehrt die neuen Antikörper als Mittel der Wahl in den Fokus – diese Aufmerksamkeit entspricht nicht den aktuell gültigen Leitlinien.
In der aktuell geltenden Leitlinie zur Therapie der chronischen Migräne ist eindeutig definiert, welche Patienten einen monoklonalen Antikörper bekommen sollten. „Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ist eine Verordnung bei Patienten mit episodischer Migräne möglich, wenn mindestens fünf Substanzen aus den vier verfügbaren, zugelassenen medikamentösen pharmakologischen Gruppen wie Betablocker (Metoprolol oder Propranolol), Flunarizin, Topiramat, Valproinsäure oder Amitriptylin nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen oder Warnhinweise bestehen“, heißt es in der Leitlinie. Es wird empfohlen, Antikörper erst dann einzusetzen, wenn der Patient auf eine Therapie mit Onabotulinumtoxin A nicht angesprochen hat.
Personen, die unter chronischer Migräne leiden, sollten dann die bisherige Therapie wechseln, wenn es innerhalb von zwei Monaten nach Erreichen der Enddosis eines oralen Medikamentes zu keinem Therapieerfolg kommt. Als orale Therapie kommen neben Betablockern, Amitriptylin und Topiramat in Frage. Nach einem Beschluss des G-BA darf Valproinsäure zur Migränebehandlung nur noch von Fachärzten für Nervenheilkunde, Psychiatrie oder Neurologie verordnet werden. Scheitern diese Oralia, so kann eine Behandlung mit Botulinumtoxin in Betracht gezogen werden. Hierfür wird die Substanz im Intervall von 12 Wochen injiziert. Als Eskalationstherapie kommen die CGRP-Antikörper in Frage. Bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit aller Basistherapeutika kann auf Wirkstoffe wie Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab zurückgegriffen werden. Das Therapieansprechen ist dokumentationspflichtig. Zeigen sich die Antikörper als wirksam, so kann die Therapie bis zu neun Monate fortgesetzt werden. Danach sollte eine Therpiepause in Erwägung gezogen werden.
Sowohl bei der episodischen als auch bei der chronischen Migräne ist ein Therapieerfolg definiert als eine Reduzierung der durchschnittlichen monatlichen Kopfschmerztage um mindestens 50 Prozent im Vergleich zur Vorbehandlung über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten. Um diese Entwicklung besser festzuhalten und auswerten zu können wird die Dokumentation mittels Tagebuches empfohlen. Als Eskalationstherapie werden Therapien mit Substanzen definiert, die neben einer höherer Wirksamkeit auch ein höheres Risiko für das Auftreten schwerwiegender Nebenwirkungen besitzen.
Innerhalb der chronischen Migräne ist eine prophylaktische Wirkung mittels placebokontrollierten Studien laut aktuell gültiger Leitlinie nur für Onabotulinumtoxin A und Topiramat belegt. Innerhalb der zwei PREEMT-Studien wurden 1384 Patienten eingeschlossen. Es wurden zwei Behandlungszyklen im Abstand von drei Monaten untersucht. Danach folgte eine sechsmonatige offene Behandlungsphase. Im Ergebnis zeigte sich, dass Onabotulinumtoxin A die Tage mit Kopfschmerzen im Vergleich zu Placebo signifikant senken konnte.
Auch die Häufigkeit der Migräneattacken, die Tage mit ausgeprägten Kopfschmerzen, die kumulativen Kopfschmerzstunden pro Tag und die subjektive Beeinträchtigung konnten reduziert werden. Die Anzahl der monatlichen Kopfschmerztage reduzierte sich von 19,9 um 8,4 Tage. Auch bei Patienten mit Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln zeigte OnabotulinumtoxinA eine gute Wirkung.
Die Injektionsmengen sind als Einheiten angegeben. Bei der Behandlung der Migräne werden nicht nur Injektionsstellen am Kopf gewählt, sondern auch im Nacken- und Schulterbereich. Die Injektion sollte beidseitig erfolgen. Insgesamt werden 155 bis 195 Einheiten aufgeteilt auf 31 bis 39 Stellen empfohlen. Nach der Injektion bindet der Stoff an spezifische zelluläre Oberflächenrezeptoren. Botulinumtoxin blockiert die periphere Acetylcholin-freisetzung an den präsynaptischen Nervenendigungen. Die Wirksamkeit zeigt sich in allen Indikationen nicht sofort, sondern zeitversetzt. Nach fünf bis sechs Wochen ist die maximale Wirkung vorhanden. Die Wiederherstellung der Impulsübertragung erfolgt im Mittel nach zwölf Wochen, sodass nach dieser Zeit eine neue Behandlung nötig sein kann.
Die Techniker Krankenkasse will bei den zahlreichen Verordnungen intervenieren: Die Verordnungen seien kontinuierlich stark gestiegen. Gesetzlich Versicherte haben demnach im Januar 2019 rund 200.000 Tagesdosen verschrieben bekommen, im Oktober waren es mit etwas mehr als 500.000 Tagesdosen mehr als doppelt so viele. Bei Frauen komme die Substanzklasse deutlich häufiger zum Einsatz – rund 90 Prozent der Versicherten mit einer entsprechenden Verordnung seien weiblich gewesen, schreibt die TK. Die monatlichen Kosten seien stetig gestiegen – im Oktober 2019 lagen sie hochgerechnet auf die gesamte gesetzliche Krankenversicherung bei etwa 9,4 Millionen Euro.
Studienauswertungen zeigen, dass immer noch ein besseres Bewusstsein für Migräne geschaffen werden muss. So erhielten unter den Befragten der im Juni durchgeführten „Overcome-Studie“ des Herstellers Lilly zwar 79 Prozent aller Personen mit vier oder mehr Kopfschmerztage pro Monat zwar die Diagnose Migräne, allerdings nahmen nur 28 Prozent ein vorbeugendes Medikament ein. Ein wichtiger Aspekt der Migränebehandlung sei das Stigma, das viele mit der Krankheit verbinden: Viele Menschen seien zurückhaltend bei der Suche nach medizinischer Hilfe oder der Einnahme von Medikamenten, da sie Angst hätten, wie andere sie dafür sehen könnten.
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