Wenn der Engpass zum Notfall wird Patrick Hollstein, 08.09.2016 10:28 Uhr
Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein: Dass lebenswichtige Medikamente oder Standardimpfstoffe in Deutschland fehlen, kann sich das Bundesgesundheitsministerium (BMG) nicht vorstellen – und lehnt weitergehende Maßnahmen kategorisch ab. Dabei hat es vor wenigen Wochen erstmals einen echten Krisenfall gegeben: Wichtige Impfstoffe zur Immunisierung von Säuglingen waren komplett ausverkauft und mussten per Notermächtigung aus dem Ausland importiert werden. Ein bis dahin beispielloser Vorgang.
Für Krisenzeiten ist im Arzneimittelgesetz (AMG) eine Maßnahme zur Notversorgung vorgesehen: Droht ein Versorgungsmangel bei „Arzneimitteln, die zur Vorbeugung oder Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen benötigt werden“, können die Behörden im Einzelfall befristet den Vertrieb nicht zugelassener Präparate genehmigen. Dasselbe gilt für das Auftreten einer „bedrohlichen übertragbaren Krankheit, deren Ausbreitung eine sofortige und das übliche Maß erheblich überschreitende Bereitstellung von spezifischen Arzneimitteln erforderlich macht“.
Bislang hat das BMG den Notstand erst dreimal ausgerufen: Als in Westafrika Ebola ausbrach und im Jahr 2014 erste Fälle auch in Deutschland gemeldet wurden, erteilte das BMG die Ermächtigung, „eine Vorbeugung oder Behandlung mit experimentellen Arzneimitteln zu ermöglichen“. Gemeint war damals die Nutzung des Serums von geheilten Patienten (Rekonvaleszentenserum) zur passiven Immunisierung akut Erkrankter. Dazu kam es jedoch nicht.
Im September 2015 wurde der Import von oral applizierbaren Arzneimitteln zur Therapie von Skabies erlaubt. Die Importe waren notwendig geworden, nachdem es in einer Hamburger Flüchtlingsunterkunft zu einem Ausbruch der durch Krätzmilben verursachten und ansteckenden Hautkrankheit gekommen war und die Betroffenen wochenlang auf Arzneimittel warten mussten. Im Mai brachte Infectopharm die erste Ivermectin-haltige Tablette auf den Markt, sodass die Notimporte obsolet wurden.
Zuletzt kam der Notparagraph im Juni zur Anwendung. GlaxoSmithKline (GSK) konnte Infanrix hexa nicht liefern, bei Sanofi Pasteur MSD war Hexyon betroffen. Die beiden Impfstoffe werden standardmäßig zur Grundimmunisierung von Säuglingen gegen Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten, Haemophilus-influenzae-b, Poliomyletisi und Hepatitis B angewendet.
Weil auch die entsprechenden Fünffachimpfstoffe bereits seit Monaten defekt waren, genehmigte das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) den Import aus anderen Ländern. Nachschub konnte so aus Frankreich und Italien beschafft und der Engpass damit überbrückt werden.
Obwohl die Lieferengpässe damit erstmals eine Notversorgung ausgelöst hatten, sieht das BMG keinen Anlass für eine Meldepflicht oder Zwangsbevorratung seitens der Hersteller. In den kommenden Wochen ist ein „Jour Fixe“ unter Beteiligung der Behörden und Fachkreise geplant. Die Expertenrunde soll die Versorgungslage kontinuierlich beobachten, bewerten und so mehr Transparenz bei der Versorgung mit Arzneimitteln und Impfstoffen schaffen. Außerdem soll eine Liste „besonders versorgungsrelevanter, engpassgefährdeter Arzneimittel“ erarbeitet werden.
„Lieferengpässe und Lieferunfähigkeiten bei einzelnen Impfstoffen können immer wieder auftreten und sind in der Regel zeitlich begrenzt“, hatte das BMG schon im März 2014 auf eine Kleine Anfrage der Linken geantwortet. Gänzlich ausschließen ließen sich die Probleme nicht, dafür seien Herstellung und Kontrolle von Impfstoffen zu komplex. Engpässe hätten bisher nur zur Verzögerung von Impfungen bei einzelnen Personen geführt, Krankheitsausbrüche aufgrund nicht erfolgter Impfung seien bisher nicht aufgetreten. „Ein Fehlbedarf ist bisher nicht zu vermerken.“
Tatsächlich müssen die Kinderärzte immer wieder improvisieren. Anfang 2014 stand die Versorgung mit Standardimpfstoffen schon einmal vor dem Kollaps. Damals konnte GSK wegen eines Herstellungsproblems Priorix-Tetra, seinen Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen sowie den Varizellen-Einzelimpfstoff, nicht mehr ausliefern.
Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und Robert Koch-Institut (RKI) forderten die Ärzte angesichts des drohenden Ausfalls dazu auf, andere Impfstoffe zu kombinieren. Um einen kompletten Zusammenbruch zu verhindern, sollten Auffrischimpfungen verschoben werden. „Auf keinen Fall“ sollte dagegen auf die rechtzeitige Grundimmunisierung verzichtet werden, so das PEI damals.
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