Lieferboykott statt Nutzenbewertung Patrick Hollstein, 02.09.2011 16:13 Uhr
Das mit dem AMNOG eingeführte Verfahren der frühen Nutzenbewertung wird möglicherweise bald wieder die Politik beschäftigen. Nachdem vor einer Woche Novartis wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) seinen Blutdrucksenker Rasilamlo (Aliskiren/Amlodipin) nach nur vier Monaten vom Markt genommen hat, setzt nun der zweite Pharmakonzern auf das Druckmittel des Lieferboykotts. Boehringer Ingelheim und Lilly werden ihr orales Antidiabetikum Trajenta (Linagliptin) deutschen Patienten nicht zur Verfügung stellen.
Auch diesmal gibt es Streit um die Vergleichstherapie, die für den Nachweis des Zusatznutzens herangezogen wird: Boehringer und Lilly wollen Trajenta gerne innerhalb der Gruppe der Gliptine vergleichen und haben entsprechende Studien durchgeführt. Der G-BA hat offenbar andere Vorstellungen. Details will man bei Boehringer nicht verraten, denn noch laufen vertrauliche Gespräche mit den Nutzenbewertern. Nur so viel: Bei der gewünschten Vergleichstherapie gehe man davon aus, dass der therapeutische Nutzen und die positiven Eigenschaften des Wirkstoffs nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Für die Konzerne geht es um viel: Stellt der G-BA keinen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie fest, wird Trajenta nach einem Jahr einer Festbetragsgruppe zugeordnet. „Die laufenden Gespräche auf Verbandsebene mit den Kostenträgern deuten darauf hin, dass zurzeit keinerlei Bereitschaft erkennbar ist, Preise für medizinische Innovationen auch nur angemessen zu gestalten“, klagt der Boehringer-Deutschlandchef Engelbert Günster. Im Gegenteil: Es sei die Absicht zu erkennen, einen Preis sogar unter europäischem Durchschnitt festlegen zu wollen.
Und so haben sich Boehringer und Lilly laut Günsler zu einer „schmerzlichen Entscheidung“ durchgerungen: Trajenta wird formal auch auf dem deutschen Markt eingeführt, aber nicht ausgeliefert. Dadurch verlieren die Konzerne zwar das beste Geschäft, denn innerhalb des ersten Jahres dürften sie den Preis noch frei festsetzen. Aber, so formuliert es eine Konzernsprecherin, der G-BA muss sich der Auseinandersetzung mit den Herstellern nun tatsächlich stellen.
Noch im September soll das Dossier beim G-BA eingereicht werden. Vielleicht fragen dann schon die ersten Ärzte und Patienten, warum das gelistete Präparat in Deutschland nicht lieferbar ist. Ob Boehringer/Lilly und Novartis mit ihrer Strategie Erfolg haben, wird sich zeigen. Vermutlich ist es nicht das letzte Mal, dass ein Hersteller auf direkte Konfrontation mit den Nutzenbewertern geht. Noch ein Dutzend seit Jahresbeginn zugelassene Präparate müssen aktuell durch das Prüfverfahren.