Leitlinie: Schmerzmittelinduzierter Kopfschmerz Alexandra Negt, 10.06.2020 09:34 Uhr
Mehr als eine halbe Million Deutsche leiden an durch Schmerz- oder Migränemittel verursachten Kopfschmerzen. Davon gehen zumindest die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) aus. Diese schmerzmittelinduzierten Kopfschmerzen (Medication Overuse Headache, MOH) können entstehen, wenn Analgetika zu oft und zu hoch dosiert eingesetzt werden. Die European Academy of Neurology hat nun zum Management des Kopfschmerzes bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln eine Leitlinie mit Therapiestrategien veröffentlicht.
Bei häufigen Kopfschmerzen und Migräne versprechen Analgetika wie Ibuprofen & Co. schnelle Linderung. Zu häufig eingenommen oder zu hoch dosiert, können sie das Leiden aber noch verstärken und eine chronische Krankheit verursachen. Von chronischem Kopfschmerz durch Übergebrauch von Medikamenten sprechen Ärzte dann, wenn die empfohlene maximale Dosierung und Anwendungsdauer überschritten wird. In der europäischen Leitlinie ist medikamenteninduzierter Kopfschmerz wie folgt definiert: „Es handelt sich um einen MOH, wenn die Kopfschmerzen an 15 oder mehr Tagen pro Monat über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten bestehen und durch die regelmäßige Einnahme von symptomatischer Kopfschmerzmedikation an mindestens 10 beziehungsweise 15 Tagen pro Monat ausgelöst werden.“
Viele Patienten ahnungslos
„Die meisten Patienten ahnen nicht, dass Schmerztabletten die Schmerzursache sein können“, sagt Professor Dr. Hans-Christoph Diener, Kopfschmerzexperte der DGN. Menschen, die häufig Kopfschmerzen haben, sollten vorbeugend aktiv werden, um nicht in einen Teufelskreis von Schmerzen und Medikation zu kommen. Gefragt ist ein bewusster Einsatz von Schmerzmitteln. Im Rahmen der Selbstmedikation sollten Schmerzmittel nicht länger als drei Tage in Folge und nicht häufiger als an zehn Tagen pro Monat eingenommen werden. Wer sich nicht an die sogenannte „Zehnerregel“ hält, läuft Gefahr, in einen Teufelskreis zu gelangen. Dabei kann ein MOH nicht nur durch NSAID ausgelöst werden, sondern auch durch Triptane, Opioide und Ergotamine.
Abstumpfung der Rezeptoren
Der übermäßige Schmerzmittelkonsum verändert die Schmerzwahrnehmung. Analgetika greifen an bestimmten Rezeptoren an. Sind die Arzneistoffe im Überfluss vorhanden, müssen die Rezeptoren ihre Empfindlichkeit absenken, sonst käme es zu einer Fehlregulation. Die Folge des Abusus ist eine Abstumpfung der Rezeptoren – die Schmerzempfindlichkeit steigt, es entsteht ein Dauerkopfschmerz. Die Betroffenen steigern den Einsatz von Schmerzmitteln oder greifen gar zu stärkeren Substanzen, um den Schmerz zu betäuben. Ebbt die schmerzstillende Wirkung der Arzneimittel ab, tritt ein Absetzkopfschmerz auf, der die Betroffenen wieder zu Schmerzmitteln greifen lässt.
Die Leitlinie zum Management des Kopfschmerzes bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln wurde im European Journal of Neurology veröffentlicht. Hierfür wurden 139 themenrelevante Fachartikel von Neurologen und anderen Experten ausgewertet. Die Leitlinie enthält folgende Empfehlungen:
- Aufklärung und Beratung rund um das Thema Therapie und Prävention
- Aufzeigen, wer einen MOH behandeln lassen sollte
- Multimodale Therapieansätze
- Medikamentenentzug
Multimodale Konzepte
Multimodale Konzepte umfassen Maßnahmen wie ein ausgewähltes körperliches Training, das Erlernen von Entspannungsübungen und Psychotherapie sowie den Einsatz präventiver Medikation. Auch das Aufzeigen eines geeigneten Stressmanagements kann dazu beitragen, dass die schmerzmittelinduzierten Kopfschmerzen gelindert werden. Zu den präventiven Medikamenten zählen beispielsweise: Topiramat, Onabotulinumtoxin A, Fremanezumab, Erenumab.
Das Nervengift Onabotulinumtoxin A (Botox) wirkt aufgrund der muskelrelaxierenden Eigenschaften. Das Antiepileptikum Topiramat ist indiziert bei Erwachsenen zur Prophylaxe von Migränekopfschmerzen nach sorgfältiger Abwägung möglicher alternativer Behandlungsmethoden. Topiramat ist nicht vorgesehen für die Akutbehandlung von Kopfschmerzen geeignet. Monoklonale Antikörper eignen sich ebenfalls zur Prophylaxe.
Der humanisierte monoklonale Antikörper Fremanezumab (Ajovy, Teva) ist zur Migräneprophylaxe bei Erwachsenen indiziert, die an mindestens vier Tagen pro Monat unter Migräne leiden. Zur Behandlung einer akuten Migräneattacke ist das Arzneimittel nicht geeignet. „Migräne kann einen erheblichen Einfluss auf den Alltag der Patienten haben. Einige erleiden 15 migränebedingte Kopfschmerztage pro Monat“, sagt Richard Daniell, Europachef von Teva. Fremanezumab ist neben Galcanezumab, Eptinezumab sowie Erenumab ein Antikörper des Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP). Anders als Erenumab (Aimovig, Novartis) greift Fremanezumab nicht am CGRP-Rezeptor an, sondern nimmt gezielt Einfluss auf das Neuropeptid.