Patienten, die mit Antidepressiva aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) behandelt werden, könnten über eine höhere Gewaltbereitschaft verfügen. Eine bevölkerungsbasierte Studie gibt Hinweise auf vermehrte kriminelle Handlungen unter der Therapie. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „European Neuropsychopharmacology“ veröffentlicht. In der Vergangenheit sind SSRI schon häufiger aufgrund ihrer Nebenwirkungen in den Fokus geraten.
Die Wirkstoffgruppe der SSRI kommt bei verschiedenen Beschwerdebildern zum Einsatz: Sie können sowohl zur Behandlung wie auch zur Prophylaxe von psychischen Erkrankungen wie Major-Depressionen, Panikstörungen, Zwangs-und Angststörungen sowie bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) angewendet werden. Zu den Wirkstoffvertretern auf dem deutschen Markt zählen Sertralin, Citalopram und Escitalopram, Fluoxetin, Paroxetin und Fluvoxamin. Die Wirkstoffe hemmen die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin (5-HT) im synaptischen Spalt. Dadurch steigt die Serotonin-Konzentration zwischen den Neuronen an, die Signalübertragung verbessert sich.
Gegenüber trizyklischen Antidepressiva haben SSRI eine deutlich geringere Affinität zu anderen Rezeptoren wie Histamin- und Muskarinrezeptoren. Daher sind die SSRI in der Regel besser verträglich. Dennoch kann es zu Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit und Durchfall oder auch Müdigkeit, Schwindel oder Mundtrockenheit kommen. Ein weiteres Risiko stellt zudem das sogenannte „Serotoninsyndrom“ dar, das unter der Einnahme auftreten kann: Typische Symptome sind vermehrtes Schwitzen, Hyperreflexe, Tremor und Fieber. Außerdem kann es zu Verhaltens- oder Bewusstseinsstörungen kommen. Das Risiko einer solchen Nebenwirkung ist besonders hoch in Kombination mit Wirkstoffen, die ebenfalls den Abbau von Serotonin beeinflussen, wie beispielsweise MAO-Hemmer.
Eine aktuelle Studie zeigt jedoch, dass die Einnahme von SSRI auch die Gewaltbereitschaft beeinflussen kann. Forscher des Karolinska Instituts in Stockholm haben sich dafür die Daten von knapp 800.000 Schweden im Alter von 15 bis 60 Jahren zur Hilfe genommen. Allen wurde zwischen 2006 und 2013 zumindest zeitweise ein SSRI verordnet, die Patienten wurden durchschnittlich sieben Jahre nachbeobachtet.
Die Wissenschaftler machten bei ihrer Analyse eine Beobachtung: Während der Behandlungszeiträume mit SSRI wurden von den Teilnehmern häufiger Straftaten begangen. In der Zeit zwischen dem 29. und 84. Behandlungstag war das Risiko besonders hoch, danach fiel es wieder ab. In den ersten 28 Tagen nach dem Absetzen der SSRI war die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten ebenfalls erhöht, danach sank sie bis auf ein Normalmaß ab.
Die Forscher betonen jedoch, dass es sich insgesamt nur um einen kleinen Teil der Personen handelt. Gut möglich sei, dass die SSRI in besonders kritischen Phasen verordnet wurden, beispielsweise bei besonders starken Depressionen – in diesen Zeiten seien sie wahrscheinlich ohnehin anfälliger, Straftaten zu begehen. Dennoch warnen die Autoren der Studie: Die meisten SSRI führen zu einer Antriebssteigerung, die in vielen Fällen durchaus erwünscht ist. Bei einigen könnte sich diese jedoch in eine falsche Richtung entwickeln. Patienten mit einem erhöhten Risiko, beispielsweise Patienten mit Vorstrafen, sollten den Forschern zufolge daher auf das Risiko aufmerksam gemacht werden und verstärkt auf frühe Warnzeichen wie Reizbarkeit, Aggressivität oder gar Feindseligkeit achten.
Bereits 2018 wurde das Risiko für eine erhöhte Gewaltbereitschaft unter SSRI diskutiert: Nach einer Massenschießerei an einer Schule in Florida wurden Medienberichte laut, die erklärten, dass der Täter Psychopharmaka eingenommen hatte. Anschließend wurdeein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Arzneimitteln und Amoklaufen von Experten diskutiert. Professor Dr. Peter Christian Gøtzsche vom Nordic Cochrane Centre hielt dies durchaus für möglich: „Alle Patienten, die für jegliche Indikationen mit Antidepressiva behandelt werden, sollten adäquat überwacht und hinsichtlich klinischer Verschlechterung, Suizidalität und ungewöhnlicher Verhaltensänderungen genau beobachtet werden“, erklärte er. Das sei insbesondere während der ersten Monate einer medikamentösen Therapie oder zu Zeiten von Dosisänderungen von großer Bedeutung.
Bereits 2007 hatte die US-Arzneimittelbehörde FDA auf Risiken unter der Einnahme hingewiesen – SSRI könnten demnach in jedem Alter zu „Wahnsinn“ führen. In einer Studie von 2016 konnte Gøtzsche zusammen mit seiner Arbeitsgruppe erstmals zeigen, dass SSRI im Vergleich zu Placebo die Aggression und Suizidialität bei Kindern und Jugendlichen erhöhen. Bei Erwachsenen waren die Ergebnisse statistisch nicht signifikant. Im selben Jahr konnten die Wissenschaftler in einem systematischen Übersichtsartikel darstellen, dass Antidepressiva das Auftreten von Ereignissen fast verdoppeln, die die FDA als mögliche „Vorboten“ für Selbstmord und Gewalt definiert hat.
Eine „falsche“ Antriebssteigerung könnte allerdings nicht nur Gewaltbereitschaft und Kriminalität zur Folge haben. In der Vergangenheit wurde auch das Risiko einer erhöhten Suizidbereitschaft diskutiert: Psychiater Professor Dr. Tom Bschor von der Schlosspark-Klinik Berlin erklärte im vergangenen Jahr, dass Menschen, die mit Antidepressiva behandelt werden, nicht weniger Suizide begehen, obwohl die Arzneimittel die Depression bessern. Tendenziell würden sie sogar mehr Suizidversuche unternehmen.
Der Suizid-Forscher Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen hat Daten von 250.000 Menschen, die mit SSRI behandelt wurden, ausgewertet – 85 der Patienten wurden durch die Arzneimitteltherapie suizidal. Die Einnahme von SSRI trage dazu bei, im Alltag zu funktionieren – in einigen Fällen werde jedoch auch der Wunsch nach Selbstmord gesteigert. Gefährlich werde es vor allem, wenn bei schwer depressiven Menschen nur der Antrieb gesteigert wird, nicht aber die Stimmung. Während die aktivierenden Effekte meist recht schnell zu spüren sind, lässt die antidepressive Wirkung oft einige Wochen auf sich warten: Die Patienten sind zwar immer noch depressiv, haben aber mehr Energie und setzen ihren Selbstmordgedanken leichter in die Tat um.
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