Krebstherapien

Algorithmen für Arzneimittel

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Berlin -

Die Krebstherapie steht nach Einschätzung von Wissenschaftlern, Ärzten und Herstellern in den kommenden Jahren vor einer Revolution. Neue Diagnoseverfahren und darauf basierende Therapien versprechen einen Durchbruch, der sogar die Heilung von Krebs zur Realität oder den Krebs zumindest zu einer beherrschbaren Volkskrankheit machen könnte. Gentechnik und Big Data spielen dabei die entscheidende Rolle.

Rund um das Heidelberger Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) haben sich Firmen angesiedelt, die sich schon ein gutes Stück auf dem Weg in die Zukunft vorangearbeitet haben: Dazu gehört der Softwarekonzern SAP ebenso wie das Europäische Labor für Molekularbiologie (EMBL) und die Firma Molecular Health (MH). In absehbarer Zeit wird die Zukunft voraussichtlich bereits in einen Kassenvertrag gegossen: Als erstes sollen leukämiekranke Kinder mit den neuen Methoden therapiert werden. Die Techniker Krankenkasse sitzt mit im Zukunftsboot.

Im EMBL sitzen junge Wissenschaftler in abgedunkelten Arbeitsecken vor modernen Elektronenmikroskopen. Sie beobachten genmanipulierte Fische in Echtzeit beim Wachstum. Im Gehirn kämpfen rot und blau gekennzeichnete Eiweißmoleküle um die Vorherrschaft. Schaffen es die „guten“ Moleküle (blau) nicht, die „bösen“ Konkurrenten (rot) zu vernichten, hat der Fisch später ein Problem – möglicherweise droht ihm Demenz. Nach Ansicht der Forscher lassen sich diese Erkenntnisse bald auf den Menschen übertragen.

Eine Tür weiter beobachtet eine junge Wissenschaftlerin unter dem Elektronenmikroskop das Eiweißmolekül eines Brusttumors im fortgeschrittenen Stadium. Sie will erkennen, warum dieser Tumor anders als viele andere Varianten sein Wachstum wieder aufgenommen hat. Das Molekül ist der Schlüssel zur Erkenntnis. Auch hier erwarten die Forscher demnächst einen Durchbruch.

Einige Kilometer weiter hat sich MH zum Ziel gesetzt, die Erkenntnisse der Grundlagenforschung in die Anwendung zu transportieren, mit Hilfe von Big Data am Ende vielleicht sogar den Krebs zu besiegen. Grundlage dafür ist ebenfalls Gentechnik.

Die Spezialisten von MH sequenzieren, analysieren und verarbeiten die DNA von Krebstumoren. Die rasante Entwicklung der Speichertechnik macht das möglich. Ist der Tumor nach zwei bis drei Tagen entschlüsselt, beginnt die eigentliche Arbeit. Die sequenzierte Tumor-DNA wird in eine Cloud geschickt und dort mit den Daten und den Therapieerfolgen tausender ähnlicher Tumoren verglichen – Brustkrebs mit Brustkrebs, Prostatakrebs mit Prostatakrebs, Leukämie mit Leukämie.

Hier kommt SAP ins Spiel. DNA-Analyse und Auswertung laufen auf der Software Hana. Die 2012 gestartete Plattform bündelt Behandlungserfahrungen von derzeit 750.000 Patienten mit Millionen von Datensätzen. Mittlerweile haben sich 7100 Gesundheitseinrichtungen in 88 Ländern dem SAP-System angeschlossen. Heraus kommt eine Statistik. Dort können Kohorten gebildet werden nach Alter, Geschlecht, Alter, Gewicht und anderen Merkmalen.

Am Ende erfährt der Arzt, welche Therapie in der Vergangenheit den größten Erfolg gebracht hat. Er hat mehrere Optionen und kann den Patienten Empfehlungen geben. Mehr noch: Die DNA-Analyse des Tumors ermöglicht die passgenaue Verabreichung von Arzneimitteln. Die Forscher gehen davon aus, dass in absehbarer Zeit sogar kurzfristig spezielle Arzneimittel entwickelt werden können.

Dass die durch Big Data unterstütze Therapie wirkt, belegen die Forscher mit einem Beispiel: 2007 wurde bei einer 41-jährigen Frau inoperabler Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Sie erhielt viele Medikamente und Chemotherapien nach den Vorgaben der Leitlinienmedizin. 2013 wurden Metastasen in der Brust und Lunge entdeckt. Neue Chemotherapien und Medikationen folgten.

Aber die Nebenwirkungen wurden unerträglich und der Tumor wuchs weiter. Dann folgte die Analyse mit der MH-Technik. Das Tumormaterial wurde sequenziert und mit der Datenbank verglichen. Heraus kamen neue Therapieoptionen. Die neue Therapie schlug an, der Tumor schrumpfte und die Lebensqualität der Frau verbesserte sich deutlich.

In der Abrechnungsbürokratie des deutschen Gesundheitswesens gibt es für diese Art der Herangehensweise noch keine Ziffer. Auch fehlt es für einen flächendeckenden Einsatz noch an den Kapazitäten und der notwendigen Evidenz. Bis das zur Regelversorgung wird, wird es noch eine Weile dauern. Den Anfang machen jetzt MH, die Berliner Charité und die TK. Sie sprechen über einen Selektivvertrag zur Behandlung von Kindern mit Leukämie.

Die Kosten sind hoch, teurer als die der Leitlinienmedizin. Durchschnittliche Kosten lassen sich nicht beziffern, weil jeder Fall andere Ausgaben mit sich bringt. Die Hoffnung von Wissenschaftler, Ärzten und Pharmafirmen ist allerdings, dass sich mit Hilfe der genbasierten Therapie an anderer Stelle Kosten für nicht wirksame Behandlungen einsparen lassen.

Nicht nur die Kostenfrage erfordert gesundheitspolitische Diskussion. Wie geht die Gesellschaft mit den Genom-Daten um, wenn demnächst jeder Bürger über seine Daten verfügen kann? Was bedeutet es für das solidarische Versicherungssystem, wenn man die Versicherten spielend leicht nach genetischen Krankheitswahrscheinlichkeiten einteilen kann?

Auch die Rolle von Arzt und Apotheker werden sich vermutlich verändern. Der Arzt verliert zumindest teilweise die Hoheit über die Diagnose in der sogenannten Präzisionsmedizin, wird mehr und mehr zum Berater auf Basis der Computerdaten. Das tangiert das bisherige Selbstverständnis des Berufsstandes.

Für die Apotheker ergeben sich neue Chancen, wenn sie sich stärker in die genbasierte Arzneimitteltherapie einbringen können. Vieles ist noch Zukunftsmusik, aber man kann sie in Heidelberg schon hören. Die Beteiligten jedenfalls haben keine Zweifel, dass die Medizin vor einer Revolution steht.

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