Grippemittel

MEK- statt Neuraminidase-Hemmer Dr. Kerstin Neumann, 12.10.2015 07:45 Uhr

Berlin - 

Die Firma Atriva Therapeutics, ein Start-up aus Tübingen, entwickelt ein neues Grippemedikament. Der Wirkstoff basiert auf Arzneistoffen, die schon als Krebstherapeutika verwendet werden. Das selbstbewusst gesteckte Ziel: Das Mittel soll weltweit der neue Standard in der Grippetherapie werden.

Eine Gruppe renommierter Wissenschaftler um Professor Dr. Oliver Planz von der Universität Tübingen forscht bereits seit Jahren an der Entwicklung von neuen Grippemedikamenten. Sie verfolgt einen Ansatz, der in diesem Bereich neu ist: Durch Blockade des zellulären Enzyms MEK soll die Vermehrung von Grippeviren verhindert werden.

MEK ist kein unbekanntes Ziel in der Forschung. Das Enzym spielt in der menschlichen Zelle eine Schlüsselrolle in der Signalkaskade der sogenannten Mitogen-aktivierten Proteinkinase (MAPK). Der MAPK-Signalweg sorgt dafür, dass Informationen von außerhalb der Zelle an die DNA gelangen. Dadurch kann die Zelle die Genexpression je nach Notwendigkeit herauf- oder herunterregulieren.

Unter verschiedenen Bedingungen ist der Kommunikationsweg zwischen Zelläußerem und DNA aber gestört. In Tumorzellen beispielsweise ist MEK zu stark aktiv – einer der Gründe für das schnelle unkontrollierte Wachstum von Krebszellen.

In der Krebstherapie werden Inhibitoren von MEK bereits erfolgreich genutzt. 2013 wurde in den USA Mekinist (Trametinib) zur Behandlung spezieller metastasierender Krebsarten zugelassen. Im vergangenen Jahr erhielt der Hersteller GlaxoSmithKline (GSK) auch grünes Licht der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA).

Auch für Grippeviren ist MEK ein wichtiger Angriffspunkt. Sie bauen das eigene Erbgut in die menschliche Zelle ein und aktivieren gleichzeitig Signalübertragungen. Die Folge ist eine starke Vermehrung der Viren. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass die spezifische Blockade von MEK zu einer starken Wachstumshemmung aller getesteten Influenza-Typen führte.

Die Studienergebnisse waren so erfolgreich, dass die Gruppe im Frühjahr 2015 eigens ein Unternehmen gründete, um die Entwicklung des Medikamentes weiter voranzutreiben. Atriva soll nun die erforderlichen Gelder einwerben, die für ein klinisches Studienprogramm notwendig sind. Wenn die Markteinführung gelingt, rechnet das Unternehmen mit Jahresumsätzen in dreistelliger Millionenhöhe.

In Deutschland werden gegen Grippeviren die Neuraminidase-Hemmer Tamiflu (Oseltamivir) und Relenza (Zanamivir) eingesetzt. Diese sind allerdings nicht unumstritten: Zwei Analysen der Cochrane-Collaboration im vergangenen Jahr hatten keinen Nachweis erbracht, dass die Medikamente geeignet sind, Grippe wirkungsvoll zu bekämpfen oder dieser vorzubeugen. Die EMA bewertete das Nutzen/Risiko-Verhältnis der Grippemittel jedoch als positiv.

Im Jahr 2009 hatten Regierungen weltweit zum Schutz vor der sogenannten Schweinegrippe H1N1 Milliardenbeträge für Tamiflu-Vorräte ausgegeben, vor allem um gegen schwere Komplikationen vorzubeugen. Alleine in den USA wurden demnach 1,3 Milliarden US-Dollar ausgegeben, in Großbritannien 424 Millionen Pfund.

In seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor einem Jahr darauf hingeweisen, dass es bislang keine überlegenen alternativen medikamentösen Therapien für den Fall einer schwerwiegenden Pandemie gebe.