„Deutschland hat keine Studienkultur“ Dr. Kerstin Neumann, 11.11.2015 08:10 Uhr
Randomisierte klinische Studien gelten allgemein als wichtigste Grundlage, um die Wirksamkeit von Arzneimitteln zu untersuchen. Seit Inkrafttreten des AMNOG wird aber der Ruf lauter, zumindest für die Nutzenbewertung auch andere Studienarten zu berücksichtigen. Das kann als Ergänzung zu klinischen Studien sinnvoll sein, darf aber nicht der Hauptfokus werden, sagt Professor Dr. Gerd Antes, der Leiter des deutschen Cochrane-Zentrums in Freiburg. Im Interview erklärt er, warum klinische Studien unverzichtbar sind und was in Deutschland besser werden muss, um an die internationalen Standards heranzureichen.
ADHOC: Was ist die Herausforderung für die Untersuchung von Arzneimitteln?
ANTES: Optimalerweise, aber leider nur theoretisch möglich, wäre das immer der einzelne Patient selbst. Naturgemäß kann aber ein- und derselbe Patient nicht gleichzeitig sowohl die Therapie als auch die Kontrollbehandlung erhalten. Darum muss versucht werden, mit Studien an ausreichend großen Patientengruppen den einzelnen Patienten so gut wie möglich abzubilden. Dass dabei eine Fülle von Fehlermöglichkeiten lauern, ist durch empirische Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten gut belegt und entsprechend in die Regulierung des Studiengeschehens aufgenommen worden. Bekannte Maßnahmen wie Randomisierung, Verblindung oder Intention-to-treat-Analyse sind Qualitätssicherungsmaßnahmen, um fehlerhafte Aussagen aus Studien zu minimieren. Der rote Faden dabei ist der maximale Schutz vor systematischen Fehlern, heute auch in deutscher Sprache als Bias bezeichnet. Deswegen ist Risk-of-Bias das grundlegende Prinzip der Bewertung, wie vertrauenswürdig Studienergebnisse sind.
ADHOC: Sind klinische Studien der Goldstandard?
ANTES: Randomisierte klinische Studien sind gegenüber dem Bias-Risiko am wenigsten anfällig und damit als Grundlage für die Zulassung unersetzbar.
ADHOC: Ist das für die Nutzenbewertung genauso?
ANTES: Die Erkenntnisse aus randomisierten klinischen Studien bilden auch für eine fundierte Nutzenbewertung die Grundlage. Nach Markteinführung eines Medikaments können bisher nicht gestellte Fragen zur Wirksamkeit und Sicherheit gestellt werden, die dann weitere klinische Studien zur Folge haben. Insbesondere Nebenwirkungen können aber allein aufgrund des Studienumfangs in Zulassungsstudien nicht sicher erfasst werden, so dass hier Beobachtungsstudien eine notwendige Ergänzung liefern.
ADHOC: Warum haben Beobachtungsstudien so einen schlechten Ruf?
ANTES: Weil sie grundsätzlich viel anfälliger für systematische Fehler sind. Dazu kommt dann noch oft, dass Qualitätsmaßnahmen missachtet werden und sie rufschädigend lange als Marketing-Maßnahme von pharmazeutischen Unternehmern missbraucht wurden. Beobachtungsstudien sind als Wirksamkeitsstudien sicher nicht geeignet.
ADHOC: Auch nicht, wenn sie methodisch gut durchgeführt werden?
ANTES: Auch dann nicht. Eine gute Methodik hat als Leitmotiv, der „Wahrheit“ durch die Aussagen aus Studiendaten möglichst nahe zu kommen. Das Studienkollektiv liefert Erkenntnisse, die der gesamten Patientenpopulation und damit auch den einzelnen Patienten darin eine möglichst verzerrungsfreie Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt. Die dafür bekannten und genutzten Bausteine wie Randomisierung, Vergleich mit einer parallelen Gruppe, Verblindung und Regeln für die statistische Auswertung sind einzelne Werkzeuge, um die maximale Verzerrungsfreiheit, also den minimalen Bias, zu erreichen. Wenn man dieses Grundprinzip akzeptiert und anwendet, erledigt sich auch ein Großteil der Verwirrung um das Gegeneinander von klinischen Studien und Beobachtungsstudien wie von selbst.
ADHOC: Wie müsste eine solide Datenlage für die frühe Nutzenbewertung aussehen?
ANTES: In jeder Phase der Entwicklung werden Aussagen zum Nutzen benötigt, um zum Beispiel Patienten und Ärzten Information zu liefern, die deren Entscheidungen unterstützen. Dass es nur wenig Studien oder Daten zu einer Intervention gibt, ist eher Normalität denn die Ausnahme. Daraus kann jedoch nicht der Verzicht auf Daten beziehungsweise auf die Nutzenbewertung abgeleitet werden, sondern eher die Forderung, die fehlenden Daten so rasch wie möglich zu generieren.
Eine entscheidende Entwicklung des letzten Jahrzehnts ist, Studien nicht mehr einzeln anzuschauen, sondern auf alle relevanten Studien zu einer Fragestellung zu schauen und deren Ergebnisse in systematischen Übersichtsarbeiten zusammenfassen. Auch dafür gilt als tragendes Konzept „Risk-of-Bias“ mit einer Methodik für die Synthese, die für randomisierte kontrollierte Studien heute einer einheitlichen Standardisierung folgt.
ADHOC: Wie sollten Studien zur Versorgungsforschung aussehen?
ANTES: Den Begriff „Versorgungsstudien“ sollte man tunlichst meiden. Die desorientierende Trennung zwischen klinischen Studien und Versorgungsstudien ist eine typisch deutsche Verwirrung und international so nicht vorhanden. Die methodisch saubere Herangehensweise besteht darin, das Studienziel zu definieren und zu operationalisieren und dann dafür die geeignetste Studienform zu wählen. Damit verwischen sich die künstlichen Grenzen unmittelbar, da für alle Fragestellungen gilt, einen maximalen Schutz vor Bias zu erreichen. Dafür gibt es international eine Fülle von Vorbildern und es ist höchste Zeit, auch in Deutschland die Orientierung an den internationalen Standards zu suchen.
ADHOC: Was müsste konkret besser werden, um in Deutschland eine bessere Studienqualität zu erreichen?
ANTES: Es gibt kein landesweites Konzept zur Identifizierung von offenen Fragen bezüglich der Qualität von diagnostischen und therapeutischen Verfahren. Damit fehlt eine gesteuerte Initiierung von Studien, um angesichts der begrenzten Mittel die Studien durchzuführen, die relevantes Wissen für die Versorgung und weitere Forschung generieren. Die Themenwahl geschieht bei uns gegenwärtig nicht nach Relevanz und unter Regeln der Priorisierung, sondern ist hersteller- und wissenschaftlergetrieben. Dazu kommt, dass Deutschland für ein hoch entwickeltes Land unterdurchschnittlich finanzielle Mittel für Studien bereit stellt und damit die Entwicklung einer produktiven Studienkultur behindert wird.